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Das komplette Kind

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Das komplette Kind

eine Kurzgeschichte von Jonathan Dilas


„Wir sind zum Abschluss unseres Experiments gekommen und hoffen, dass sich die Menschen darauf besinnen werden, was in unserer Welt wirklich zählt“, sagte der Professor und sortierte einige Reagenzgläser.

„Sie wissen, dass ich insbesondere gekommen bin, um mir ein Bild von Ihrer Arbeit zu machen und diese entsprechend zu beurteilen. Unsere Firma hat Ihnen hohe Summen zur Verfügung gestellt, um Sie zu unterstützen. Wir sind hierbei davon ausgegangen, dass Sie im Sinne der Wirtschaft handeln und Entdeckungen und Erfindungen konstruieren, die wir profitabel vermarkten können. Sie sind mit Ihren Forschungen und Ihrem Institut eine Investition für uns. Es ist Ihre Verpflichtung, die Sie vertraglich mit uns eingegangen sind. Wenn wir es wünschen, können wir Ihnen Ihre feinen Abschlüsse entziehen lassen und Sie werden daraufhin nicht mehr Ihren bevorzugten Beschäftigungen nachgehen können“, entgegnete der Prüfer der milliardenschweren Firma und rückte seine Krawatte zurecht.

Ein kritischer Blick machte die Runde und während er sich die seltsamen Gegenstände auf den Labortischen anschaute, begann der Professor seine Brille zu putzen.

„Ich bin mir darüber im Klaren, dass Sie, so wie der Konzern, den Sie hier gerade vertreten, stets auf diese Weise vorzugehen pflegen. Das können Sie Ihren Auftraggebern ruhig mitteilen. Ich habe in meiner Forschung eine Entdeckung gemacht, die sich zu einer Vision herauskristallisiert hat und die ganze Welt bewegen wird. Diese Vision hat mich dabei unterstützt, meine Arbeit in eine andere Richtung zu lenken, als es ursprünglich geplant war. Damit habe ich vielleicht gegen Ihre vertraglichen Bestimmungen verstoßen und wird vielleicht für immer dafür sorgen, dass ich meiner Arbeit nie wieder nachgehen kann, doch bin ich durchaus bereit, dieses in Kauf zu nehmen.“

„Sie haben einen Vertragsbruch begangen. Die Auflage hat von Ihnen verlangt, einen bestimmten Virus nachzuweisen und klarzustellen, dass dieser eine Bedrohung für die Menschheit darstellt. Wir haben Ihnen Gen-Material von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zur freien Verfügung gestellt, um hier Übereinstimmungen zu entdecken. Was haben Sie hingegen getan? Sie haben ständig weiteres Gen-Material angefordert, aber offensichtlich etwas ganz anderes damit geplant. Wir können dafür sorgen, dass Sie Ihre restliche Lebenszeit in Haft verbringen können. Ein Vertragsbruch mit derart hohen Geldsummen können Sie dann mittels Rückzahlung oder Haft ausgleichen. Wir wissen beide, dass Sie das investierte Geld keinesfalls zurückzahlen können. Ihre Konten weisen diesen Betrag nicht annähernd auf.“

Der Professor stutzte für einen Moment, da er erkannte, dass dieser Konzern auch die Mittel besaß, seine Finanzen uneingeschränkt einzusehen, doch dann erinnerte er sich wieder an sein Werk, das er vollbracht hatte.

„Welche Mittel Sie auch immer vorweisen, um mich einzuschüchtern. Es gibt Situationen im Leben, da müssen wir unsere egoistischen Interessen zurückhalten und im Sinne der Menschlichkeit und unseres Planeten handeln. Wir können nicht nur immer mit konstruierten oder erfundenen Viren unsere Finanzen und Einflussmöglichkeiten vervielfachen. Einmal muss gut sein!“

„Das ist Ihre persönliche Meinung, Ihre persönlichen Gedanken und Gefühle hätten Sie aus diesem Geschäft heraushalten sollen. Nun können Sie mit sehr empfindlichen Strafen rechnen“, entgegnete der Prüfer unnachgiebig.

„Ich weiß. Das ist Ihr gutes Recht. Doch für mich ist ein für alle Mal Schluss mit diesem abgekarteten Spiel. Ich habe die Konsequenzen bedacht und bin mit allem einverstanden. Doch ich weiß, dass meine Entdeckung und mein Experiment große Wellen schlagen wird. Sie werden sehen!“

„Ich werde nun meine Auftraggeber aufsuchen und meinen Bericht erstatten“, wollte der Prüfer zum Ende des Gesprächs klarstellen.

„Möchten Sie denn nicht wissen, um was es sich handelt und für das ich sogar mein Leben dafür aufs Spiel setze einen Aufenthalt im Gefängnis in Kauf nehmen würde?“ fragte der Professor noch, als der Prüfer sich gerade umdrehen und zum Ausgang gehen wollte.

„Eigentlich nicht.“

Missbilligend schaute er den Professor an. Es gab für den Prüfer nichts weiter zu besprechen.

„Möchten Sie auf die Frage Ihrer Auftraggeber hin, welche genauen Beweggründe mich dazu geführt haben, den Vertragsbruch zu begehen, mit einem simplen Schulterzucken antworten?“

Der Prüfer runzelte die Stirn. Vermutlich stellte er sich diese Situation gerade vor und berechnete die Wahrscheinlichkeit einer solchen Frage vonseiten seiner Auftraggeber während seiner Berichterstattung.

„Nun gut, ich erkläre mich bereit, mir die Ergebnisse der Arbeit anzusehen. Erklären Sie mir Ihre Vorgehensweise.“

Der Professor führte den Prüfer in einen anderen Raum. Dort angekommen erblickte der Prüfer eine große Glasscheibe. Dahinter sah er einige Krankenschwestern, die beschäftigt waren, zudem ein schlichtes Kinderbett. Es war verdeckt mit einer Art Baldachin.

„Sie müssen wissen“, begann der Professor mit seiner Erklärung, „dass ich, nachdem ich Ihre zweite Lieferung an Gen-Material erhielt, überraschenden Besuch von einer Freundin erhielt, die wusste, dass ich hier tätig bin. In ihrer Begleitung befand sich ihr Mann, der Asiat ist, und deren Tochter. Sie war bereits 14 Jahre alt und sie war wunderschön. Die Mischung aus den beiden Genen hat ein zauberhaftes Kind zur Welt gebracht und als ich ihr die Hand zur Begrüßung gab und sie mich anlächelte, erhielt ich meine Vision.“

„Ein Wissenschaftler Ihres Formates sollte sich von familiären Angelegenheiten nicht so ergreifen und beeinflussen lassen. Sie sind ein Profi auf Ihrem Gebiet und sollten in jedem Fall einen kühlen Kopf bewahren.“

„Sie werden es später gewiss verstehen, da bin ich sicher, doch lassen Sie mich erst meine Erklärungen fortführen.“

Der Prüfer schaute zweifelnd durch die Glasscheibe und auf das seltsame Verhalten der Krankenschwestern. Es erschien ihm für einen Augenblick so, als vermieden sie es, genauer auf das zu blicken, das sich hinter dem Baldachin befand, es mag aber auch Einbildung gewesen sein.

„Ich habe das Gen-Material dazu benutzt, es mit den Genen anderer Nationalitäten zu kreuzen.“

„Was haben Sie?“ rief der Prüfer empört.

„So, wie ich es sage. Ich habe immer mehr Gen-Material angefordert und sämtliche Gene miteinander gekreuzt, solange, bis ich ein Gen vorliegen hatte, das sämtliche Nationalitäten unserer Welt in sich trug.“

Für einen Moment dachte der Prüfer darüber nach, ob es überhaupt möglich ist, eine solche mendelsche Genkreuzung durchzuführen. Doch um sich darüber Gedanken zu machen, hat er nicht den richtigen Beruf gewählt.

„Sämtliche Nationalitäten?“, fragte er trotzdem neugierig nach.

„Ja, ich habe kein Land ausgelassen. Dies beinhaltet verschiedene Indianerstämme, Eskimos, Aborigines, Völker aus dem Amazonas sowie andere Ureinwohner inklusive der großen und bekannten Länder. Ich habe das Gen-Material unter dem Vorwand angefordert, den vermeintlichen Virus in jedem möglichen Körper bestimmen zu können. Dies war doch ganz im Interesse Ihrer Auftraggeber, unabhängig davon, ob es diesen Virus überhaupt wirklich gab. Es mussten ja nur Labortests vorliegen, die außer mir sonst niemand wirklich hätte absolut nachvollziehen können.“

An diesem Punkt reagierte der Prüfer nicht. Er öffnete sein Jackett und schaute wieder kurz durch die Glasscheibe. Nun wurde er langsam neugierig.

„Doch wollen wir uns nicht unnötig mit solchen Marktmanipulationen aufhalten, wie Sie solche organisieren, Werbungen in der ganze Welt für Schlaganfälle, Heuschnupfen, Herzanfälle, AIDS und andere Krankheiten zu vertreiben“, fuhr der Professor fort und schob seine Brille höher auf die Nase. „Ich habe es jedenfalls geschafft, Gene zu isolieren, die wirklich sämtliche Nationalitäten in sich bergen. Um Ihnen die ganze Fachsimpelei zu ersparen… ich habe sie dann dazu eingesetzt, um ein Embryo künstlich zu erstellen.“

„Was haben Sie getan? Sie haben ein Retortenbaby mit den Genen sämtlicher Nationalitäten dieses Planeten geschaffen? Ich glaube, ich spinne!“

Der Prüfer lockerte seine Krawatte und schien ein wenig mehr als üblich zu schwitzen.

„Das wird in jedem Fall größere Konsequenzen für Sie haben, als ich Ihnen bisher offenbart habe“, fügte er noch hinzu.

Der Professor lächelte nur.

„Keine Sorge, es ist niemand dabei zu Schaden gekommen.“

„Sie sind gut, Herr Professor, Sie wissen genau, dass es nicht erlaubt ist ohne eine Genehmigung ein Retortenbaby zu erschaffen. Sie hätten auf jeden Fall auf unsere Zustimmung warten müssen, um nicht zu sagen, hätten wir auch eine Konferenz einberufen müssen, um dies gerichtlich absegnen zu lassen.“

„Das mag sicherlich zutreffen, aber wie ich darüber informiert bin, wäre der Ausgang dieses gerichtlichen Beschlusses ganz nach den Wünschen Ihrer Auftraggebers ausgefallen.“

„Wollen wir uns nicht in solche Kleinigkeiten festbeißen“, entgegnete der Prüfer und schien neugieriger zu werden. „Zeigen Sie mir nun das Kind!“

„Nur, wenn Sie wirklich sicher sind, dass Sie das auch wollen…“

„Natürlich!“

Gemeinsam verließen Sie den Raum und gingen in den Raum, den Sie zuvor durch die Glasscheibe hatten sehen können. Als sie dort ankamen, verließen die Krankenschwestern sofort den Raum, als hatten sie gewusst, dass nun ein Blick auf das Baby geworfen würde.

Sie stellten sich vor das Kinderbett und der Professor schob langsam den Stoff des Baldachins zur Seite.

Als der Prüfer das Kind erblickte, stockte ihm der Atem!

Es besaß einen leicht dunklen Hautton mit einer offensichtlich grünen Färbung, leichte Schlitzaugen und eine süße Stupsnase.

Als das Kind seine Augen öffnete und in die Augen des Prüfers blickte, durchströmte ihn das tiefe Wissen darum, dass dieses Kind ein komplettes Kind ist. Es besaß die Gene aller Völker in sich und war somit Symbol für so viele Dinge. Ihm fehlten einfach die Worte, um dies näher zu beschreiben. Es war ein unglaubliches Gefühl, das ihn ergriff, und er verstand den Professor mit seiner ganzen Besessenheit bis in die letzten Winkel seiner kalten, berechnenden und naturwissenschaftlichen Psyche. Doch er erkannte auch, dass der Professor nur im Guten zu handeln versucht hatte. Er wollte die Welt verändern und mit diesem Kind konnte er es vielleicht sogar schaffen.

Die grün-orangenen Augen des Kindes wirkten auf ihn, als beinhalteten sie ein ganzes Universum und ließen den Prüfer nicht mehr los.

„Ist… ist… er der neue Messias?“ stammelte er die Frage vor sich hin.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete der Professor. „So wie es aussieht, besitzt es ein unglaubliches und herzergreifendes Charisma.“

„Wie kann das sein? Haben Sie das Kind noch in irgendwelcher Weise manipuliert? Haben Sie ihm irgendwelche Substanzen verabreicht?“

„Keineswegs, mein Herr. Ich habe nichts weiter getan, als sämtliche Gene zu mischen. Sie müssen es sich so vorstellen, in einigen hundert Jahren vielleicht werden sich sämtliche Nationalitäten untereinander vermischt haben. Länderkultur wird es nur noch in Museen zu sehen geben. Bereits in den heutigen Tagen ist Reinrassigkeit nur noch eine Illusion. Ich habe das Kind der Zukunft geschaffen. Es ist der Mensch, wie er erst in einigen hundert Jahren existieren wird, frei von kulturellen Zwängen, Ungleichheit, Geiz, mangelnder Nächstenliebe oder irgendwelchem nationalsozialistischem Gedankengut.“

„Was denken Sie, wieso es sich so verhält, dass die Mischung aller Nationalitäten diesen Effekt verursacht?“

„Für mich“, so antwortet der Professor an dieser Stelle, „ist dies ebenso ein Hinwies auf eine intelligente Schöpfungsgeschichte, eine Art Evolutionsabsicht, wenn man so will. Verstehen Sie nun, dass diese Entdeckung, die ich gemacht habe, unsere ganze Wissenschaft auf den Kopf stellen wird? Die Hochzeit unserer Welt basiert auf die Entstehung des kompletten Kindes, woraus die Entstehung einer kompletten Menschheit entstehen wird, die alle Nationalitäten unter einem Dach untrennbar miteinander vereint…“

In diesem Moment erkannte der Prüfer die Vision des Professors. Doch ob diese nun moralisch vertretbar war oder nicht, kümmerte ihn überhaupt nicht mehr, denn er war von dem Charisma des Kindes gänzlich eingefangen und wähnte sich bereits als Teilhaber der neuen Vision.


*veröffentlicht im Kurzgeschichten-Wettbewerb.

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