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Der alte Mann

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Der alte Mann

Für einen Moment durchzuckt mich ein feuriger Strahl und scheint mein Hirn zerfetzen zu wollen, schießt durch jedes Neuron und vibriert in jedem einzelnen, bringt sie schnell zum Erzittern, lässt sie erbarmungslos aufglühen, nur um sie gleich wieder verlöschen und in Dunkelheit zurückzulassen, rüttelt an meinem Selbst, als sei ich ein einsamer, zarter Baum, verlassen auf einem kargen Fels stehend, schutzlos im Sturme eines tobenden Unwetters mit gewaltiger Meeresgischt, zuckenden Blitzen, wildem Gedonner, Höllenlärm und verdrehten Windgeistern, die auf meinen Ästen sitzen und sie mir zu nehmen gedenken.

Jedes meiner Moleküle entzündet nun nach und nach jede einzelne Zelle meines befristeten und kaum registrierten Daseins inmitten einer Welt voller Narren und Clowns mit roten Pappnasen und als Masken enttarnten, weiß geschminkten Gesichtern mit verschmiertem Kajal und falschen, schief hängenden Wimpern.

Doch ist dieser feurige Strahl eben einer unbekannten Unendlichkeit entwichen und beschwört mit unaufhaltsamer Rücksichtslosigkeit eine Angst ohnegleichen in mir herauf, die sich in ihrer Intensität aller Beschreibungen und Worte entzieht, rüttelt und schüttelt mich wie einen Apfelbaum, dem es seine Früchte zu entlocken gilt, und zwingt mich im gleichen Augenblick, mein Selbst zu betrachten.

Zeit… Sie bannt dich, wenn du sie erst verstanden hast, ermüdet deine Sinne und gaukelt dir Verläufe und Geschehnisse in einer bestimmten Reihenfolge vor, die jenseits aller Realitäten und wahren Welten steht, zermartert dein Hirn, weil du konditioniert und gedrillt worden bist, ihr Untertan zu sein und fortan ihren Theorien zu lauschen, um dir endlich erklären zu können, was sich außerhalb deiner selbst in einer dich reflektierenden Welt immer wieder nur Neues zu formen gedenkt.

So tanzt sie auf deinem Haupt, betrübt deine scharfen Sinne und klaren Augen, bis du aufgezehrt und zitternd in deiner Nische stehst und närrisch lächelst, wenn der Tod vor dir steht und dir mit einer Handbewegung demonstriert, auf welch endlose und zeitlich geordnete Verknüpfungsillusionen du hereingefallen bist als ein Untertan des Gottes Horus, dem Erschaffer der Zeit, dem vergessenen Träumer, der sein Träumen verlor und in einer einzigen, eingefrorenen und stillen in Zeitlupe resultierenden Welt schiffbrüchig wurde…

„Nun sind Sie schon seit über zwanzig Jahren Autor und das in meinem Verlag. Wie viele Jahre haben Sie noch? Schreiben Sie doch endlich ihre Memoiren! Ihre Leser warten darauf. Denken Sie doch an all die Briefe, in denen genau danach gefragt wurde.“

„Was soll ich denn schreiben? Ich erinnere mich an kein Leben, keine Vergangenheit.“

„Das glaube ich Ihnen nicht! Sie sind ein rüstiger Mann mit viel Esprit. Setzen Sie sich hin und schreiben Sie ihr letztes Werk. Über Ihr ganzes Leben. Was Sie getan und gelassen haben. Wen Sie trafen und von wem Sie sich verabschiedeten. Und über die Menschen, die sie liebten und die Sie hassten.“

„Ich und gehasst?“

„Ja, genau! Lassen Sie alles aus sich herausströmen! Schreiben Sie so, wie sie es gewohnt sind. Schreiben Sie über Ihr Leben aus Ihrer Sicht, mit Ihren Augen und Ihren Gedanken und Gefühlen. Die Leser wollen wissen, woher Sie gekommen sind und was Sie bewegt…“

Mit diesen Worten lässt mich dieser Mann allein und das mit einer Aufgabe, die sich meinem Können bei Weitem entzieht, denn ich weiß wirklich nichts zu schreiben. Meine Erinnerungen an eine Vergangenheit mit solchen Informationen ist mir definitiv nicht zugänglich.

Wie zittern nur meine Hände! Wie faltig sie sind! Es gibt keinen Moment, in denen mich nicht der Tod an diesem Ort umschleicht und meinen Blick sucht…

Es gibt tatsächlich nichts, worüber ich hätte schreiben können, denn ich bin in Wirklichkeit kein alter Mann. Ich befinde mich nämlich gerade einmal fünf, vielleicht zehn Minuten in diesem Körper! Wie kann ich da über ein Leben schreiben, das ich nicht gelebt habe? Denn ich bin ein Träumer, der genau weiß, wie man durch die Realitäten springt und immer wieder die Gestalt und den Körper von Menschen in allen Altersstufen sowie die Rolle des normalen, alltagsorientierten und alltagsbesorgten Realitätsgesellen annimmt.

Was denken diese Menschen denn, welches Werk ich denn verfassen solle in Anbetracht meiner unabhängigen Weltenkarriere, in der ich von Selbst zu Selbst hüpfe und sein kann, wer immer ich will, wonach mir auch immer gerade ist? Wohin schweift ihr Denken und ihre Phantasie, wenn sie mich mit einem wissendem Lächeln auf ihren Lippen betrachten und meinen, sie hätten mich durchschaut, in einem Leben, das mir nie widerfuhr?

Welche Rolle und Szene ihres ärmlichen Rollenrepertoires mögen sie mir in diesem Moment wohl zugedacht haben, wenn sie mich mit ihren suchenden und blinden Augen anschauen und mitleidig lächeln, Mitleid empfinden für einen Mann, der sich mit seinen Ersparnissen vor dem Altersheim zu drücken weiß und sich trotz der drohenden Begegnung mit seinem Tod an sein kleines, altes Selbst klammert, obwohl sich direkt vor seiner Nase ein Tor in eine unendliche Dimension mit unendlichen Verzweigungen geöffnet hat und, nur für sensitive Ohren hörbar, durch jeden kleinen Weltenspalt sein Name von unmenschlichen Wesen zu vernehmen ist.

Ein Mann, wie jeder andere, der sich vermutlich erst im Moment des Ablebens an sein Erbe erinnern mag, aber weitgehend und in schierer Verzweiflung partout zurückblicken will, um den Tod weiterhin in die Zukunft zu schieben, der heute und schon seit Äonen seine Gegenwart infiltriert…

Doch was hat dieses Leben nun mit mir, dem Weltenwanderer, zu tun? Denn ich bin erst seit fünf Minuten in diesem gebrechlichen Körper und regeneriere ihn in Windeseile, und wenn ich mir noch weitere fünf Minuten gebe, so würde das Alter dieses Körpers bei Weitem das seines Gesprächpartners unterbieten und diesen kurzerhand in neuem jugendlichen Leichtsinn hämisch angrinsen.

Vielleicht wäre dies eine Lehre für einen Unwissenden, der sich in seinem erlangten Sekundärwissen sonnen möchte, aber nicht erkennt, dass auch er den vielen Verknüpfungsillusionen mittelbarer Erfahrungszeitpakete unterliegt und nicht einen Moment darin geschult wurde, in Stille innezuhalten und zu erkennen, dass das Selbst, in welchem er gerade steckt, nur eine Reflektion seiner unwirschen Gefühle ist, die sich heimlich und versteckt am Horizont zu zeigen wünschen.

Wohin führt ihn diese Lebensart, wenn nicht in den Untergang, so frage ich mich, der dem Tode millionenfach entrann und durch endlose Rollen und Szenerien springt, nur, um in diesem Moment von einem beliebig vorbeieilenden Traumwesen leichterhand konstruiert zu werden, das sich nur auf diese Art als verschnupftes Hologramm in eine Szenerie einbetten konnte, in das es fortan auf ewig gefangen ist?

Tapfer! Wie tapfer muss man sein, um sich aus Atomen und Molekülen zusammensetzen zu wollen, damit man sich nicht mehr wie ein verlorener Schuh vorkommt, dem es an Sicherheit mangelt und man sich so manifestiert, als sei die Psyche in diesen zu zwängen, mit einem Bewusstsein, das sich selbst in der Vielfalt des Auges einer Libelle nicht einmal annähernd ausdrücken kann, trudelt man doch so lange am psychischen Firmament, bis man zu Boden fällt und zu einem leeren Hologramm wird, das nicht einen Moment zu erkennen vermag, dass sich jenseits seiner kunstvollen Fassade eine Weitere verbirgt, dessen Bewohner heimlich und unsichtbar, an sein Hirn angeschlossen, zuschauen und sie nicht zu deuten gedenkt, sondern nur unmittelbar zu genießen, so wie man einer Real-Soap zuschaut, über dessen Sinn man nicht gerade nachgrübeln möchte.

Nun denn, so werde ich, auf dass man mir verzeihe, diesen Körper verlassen, nicht als Heiler oder Helfer, sondern als stiller Betrachter, der nur kurz in diese Welt eingebrochen war, die vielleicht vor Jahrmillionen von einem Schöpfer erschaffen und schlaftrunken zurückgelassen wurde, damit sie für ewig wie eine treibende Insel in der Unendlichkeit dahintreibe und in sich selbst ein autonomes, gigantisches und nimmer endendes Rollenspiel darstelle, dem ich Herr geworden.


(Eine fantastische Kurzgeschichte von © Jonathan Dilas)
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