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Der Schöpferkurs

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Der Schöpferkurs

(Ein Traum wird zu einer Kurzgeschichte)

von Jonathan Dilas


Der Wind strich durch die Bäume und bewegte die Blätter in den Ästen. Wenn ich den Kopf hob und in das Blätterwerk schaute, sah ich die Sonne dahinter und ließ es in herrlichem Gold funkeln. Die langsamen Schritte verstärkten diesen Effekt noch, und ich stellte mir von außen mein Gesicht vor, wie all die Schatten der Blätter Bewegung darauf vortäuschten.

Ich blickte an mir herunter. Meine Kleidung gefiel mir an diesem Tag. Kurz fragte ich mich, ob sie zum folgenden Anlass angemessen sei, denn es war ein besonderer Tag, heute begann der Literaturkurs der Geträumten

Die Bezeichnung dieses Kurses hatte mich zu Anfang gewundert, aber dann konnte ich meine Zweifel doch zerstreuen und hatte beschlossen, ihn aufzusuchen. In diesem Kurs sollte es ausschließlich um die Erstellung von Lyrik und Prosa gehen. Nie zuvor hatte ich ein derartiges Gefühl erlebt, denn das Licht des Tages und meine euphorische Stimmung waren ein gutes Omen, diesen Kurs gerade heute aufzusuchen.

Als ich mich etwas nach links drehte und zu Boden blickte, sah ich all die Schatten der vielen Blätter auf dem Boden, wie sie sich hin- und herbewegten, wie Schlangen auf dem Kopf einer Gorgone.

Vor mir sah ich eine alte Steintreppe, aschfahlgrau mit angeschlagenen Steinen an den Seiten, einst gemacht, um ihre Stabilität zu verbessern. Risse durchzogen das Mauerwerk und in ihnen wuchs Moos, das sich ausgebreitet hatte und den Eindruck erweckte, als lebe dieses Gestein und besäße Adern, durch die grünes Blut floss. Die vier Stufen selbst schienen in der Vergangenheit sehr beansprucht worden zu sein und bogen sich leicht durch. Hätte meine Intuition nicht das Gegenteil behauptet, so hätte ich mit Sicherheit sagen können, dass hier der Zahn der Zeit sein Werk getan hatte und damit auch an diesem Ort erbarmungslos weiter fortschritt.

Als ich diese vier Stufen hinter mich gebracht hatte, konnte ich einen ersten Blick auf weitere Kursteilnehmer werfen. Neben einer weißlichen Kalkwand, die zu einem alten Schulgebäude gehörte, standen einige Frauen, die aufgeregt miteinander plauderten. Drei oder vier Männer konnte ich ebenfalls erblicken, sie standen abseits, nahe dem Eingang, einer alten, braunen Holztür mit einer eisernen, dunklen Türklinke, die reichlich verziert schien.

Minuten später saßen wir schon alle in einer Art Klassenraum. Neonröhren schmückten die Decke und warfen ein gleichmäßig verteiltes, aber viel zu grelles Licht in den Raum. Links von mir befand sich eine breite Fensterfront.

Wie verführerisch dort hinauszuschauen und einfach zu träumen, dachte ich.

Die Aussicht war wunderschön. Ein mittlerweile blutrotes Licht durchflutete den Westhimmel, und bot einen hervorragenden Ausblick auf den Sonnenuntergang.

Weiter rechts stand eine uralte Eiche, die keine fünf Männer umfassen könnten, wenn sie sich an den Händen gehalten und sie umringt hätten. Die hell- und dunkelbraun gefleckten, starken Äste erstreckten sich in alle Himmelsrichtungen und die Eiche schien damit verkünden zu wollen, dass kein anderer Baum ihr diesen traumhaften Platz streitig machen durfte.

Ich stellte mir diese Eiche an einem stürmischen Herbstabend vor und sah förmlich ihre bedrohliche Gestalt, vor der ich als kleiner Mensch stand und mit großen, aufgerissenen Augen zu ihr aufschaute, wie der Wind sie in Bewegung brachte und an ihren starken Armen rüttelte. Ihr Schatten wuchs zu einer überdimensionalen Größe an und ihre Äste wirkten nun wie gekrümmte Arme, die nach mir greifen und mich festhalten wollten.

Es blitzte und für einen Moment erschien es so, als züngelte dieser Blitz aus einem gigantischen Maul heraus, als wäre er eine elektrisierte Zunge, die nach mir lechzte und im nächsten Augenblick folgte der Donner, der mich unverzüglich zum Literaturkurs zurückbrachte.

Ich schaute in die Runde. Mittlerweile hatten sich vielleicht an die zwanzig Leute eingefunden und fast alle schauten nervös umher. Der ganze Raum war eindeutig der einer alten Schule. Gewiss handelte es sich dabei um eine stillgelegte Schule, die so zumindest noch einige Male genutzt werden konnte.

Wenn ich an die Treppe und die alte Holztür zurückdachte, kam mir der Gedanke, dass dieses ganze Gelände gewiss unter Denkmalschutz stand. Kurz vernahm ich ein amüsiertes Grinsen in mir, dessen Quelle ich jedoch nicht zurückverfolgen konnte.

Im nächsten Moment fiel mir ein Mann auf, der anscheinend ein Zauberer war, denn er hatte zuerst keinen Bleistift in seinen Händen gehalten. Dann machte er eine ruckartige Bewegung und hielt plötzlich einen gelben Bleistift in der rechten Hand, auf der obersten Spitze befand sich ein Radiergummiaufsatz. Er legte den Bleistift auf den Tisch und machte wieder diese Handbewegung.

Nach einigen Minuten lagen dort sieben Bleistifte. Als ich auf meinen Tisch schaute, sah ich keinen Stift und überlegte, ob er mir auch einen zaubern könnte, aber ich war überzeugt, dass er höchstens zehn dieser selbst gekauften, gelben Bleistifte in seinem Ärmel versteckt hatte und mir deshalb keinen abgeben würde.

Plötzlich kam eine sehr attraktive Frau durch die noch offene Tür herein. Sie trug eine hell gewaschene enge Jeans, eine mittelblaue Bluse und ein Paar schwarze Ballerinas. Ihr blondes, dickes Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Was ihr Haar so perfekt hielt, konnte ich nicht sehen, da sie sich uns sofort zuwandte und uns begrüßte:

»Guten Abend meine Damen und Herren. Mein Name ist Sonja und ich begrüße sie zum ersten Literaturkurs in dieser alten, verlassenen Schule.«

Das Gesicht schien einen kaum wahrnehmbaren, weißlichen Film zu besitzen, der auf faszinierende Art ebenfalls ihre glänzenden und Energie sprühenden, blauen Augen umspielte. Ihre Wimpern waren lang und pechschwarz geschminkt und verliehen ihren Augen somit noch mehr Ausdruckskraft. Besonders anziehend empfand ich ihren sinnlichen Mund und wenn sie mit der Zunge über ihre Lippen glitt, nur um den nächsten Satz formulieren zu können, war dies der Moment, in dem ich ohne jeden Einwand liebend gern gestorben wäre.

Ich beobachtete sie genau. Jede einzelne ihrer Bewegungen. Wie sie dort neben dem Pult stand und einen dunklen Beutel darauf ablegte, ihn zur Mitte der Oberfläche schob, damit sie mit der einen Hälfte ihres Po‘s darauf Platz nehmen konnte. Ihr rechtes Bein hing nun lässig über der Tischkante und ihr linkes balancierte dieses Manöver vom Fußboden her aus.

»Dieses Gebäude steht seit vielen Jahren unter Denkmalschutz und diente einmal als Grundschule. Gegenwärtig wird dieses Gebäude nur noch für einige Veranstaltungen und Kurse unserer Organisation genutzt und instand gehalten.«

Ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam. Diese Bewegung war nur zu erahnen. Ihre Brüste hoben sich nur leicht unter der Bluse ab und ließen nur Spekulationen im Hinblick auf ihre Größe zu. Die Knöpfe waren weiß, und so manch einer hätte sie einzeln mit den Zähnen abgebissen, nur um dies in Erfahrung zu bringen.

Plötzlich sah ich mich mit ihr an dieser riesigen Eiche stehen. Sie lehnte mit dem Rücken an dem Stamm und hatte ein Bein angewinkelt. Ich stand direkt vor ihr und spürte ihren Atem, wie er aufgeregt meine linke Schulter streichelte.

Eine wohlige Gänsehaut glitt meinen Rücken herab und ich sehnte mich danach, ihre vollen Lippen mit den meinen zu verschmelzen, nur um ihr diesen Atem zu nehmen, der mich so sanft liebkoste. Ich umfasste ihre Hüfte, fühlte ihre Beckenknochen, glitt höher zur Taille und ertastete bereits den Stoff ihrer Bluse. Ihr voller Mund zog mich magnetisch an, bis meine Zunge sich einen Weg zwischen ihre Lippen gebahnt hatte und ganz plötzlich durchzuckte es ihren Körper explosionsartig und sie griff nach meinem Kopf, um sich diesem Kuss mit dem Öffnen ihres Mundes entgegenzudrängen.

Wild strich sie mir durchs Haar und ich fühlte ihren rasenden Herzschlag. Sie schmiegte sich immer enger an mich, dass ich glaubte ersticken zu müssen. Ihre Erregung schien rasend schnell den Höhepunkt erreichen zu wollen, während ich mir einen Weg unter ihre Bluse suchte, um es endlich herauszufinden. Meine andere Hand ruhte auf ihrem Oberschenkel und fühlte ihr festes Fleisch. Nicht mehr lang, so dachte ich, würden wir uns dort noch auf den Beinen halten können… nicht mehr lang, so dachte ich, musste ich zusehen, dass ich endlich einen dieser Stifte von diesem Zauberlehrling bekam.

Ich blickte den vermeintlichen Zauberer an, aber er reagierte nicht.

»Von ihnen aus links, sehen Sie die Fensterfront. Der Ausblick ist sehr verführerisch und lädt zum Träumen ein. Wir müssen uns jetzt nicht vorstellen, wie viele Schüler es wohl gegeben haben mag, die derart den Unterricht versäumten, aber Sie alle sind natürlich dazu herzlichst eingeladen, denn diese Aussicht soll sie inspirieren.«

Wieder schaute ich auf den wunderschönen Sonnenuntergang und die gewaltige Eiche. Auf einem der Äste saß ein seltsamer Vogel. Noch nie hatte ich so einen Vogel gesehen!

In Gedanken ging ich sämtliche Vogelarten durch, aber ich konnte ihn einfach nicht zuordnen. Er hatte die Größe einer Amsel, besaß auch einen ähnlich geformten Schnabel, aber die Farbe war nicht gelb, sondern ein helles Rot. Seine Flügel waren blauschwarz und nach hinten spitz zulaufend, wie bei einer Kohlmeise. Das Gefieder hingegen war türkisfarben mit gelbem Flaum auf der Brust.

Nachdem ich es aufgegeben hatte, die Vogelart zu bestimmen, fiel mir auf, dass etwas in seinem Schnabel zappelte. Ein Regenwurm dachte ich, aber dafür war er zu klein und zu dick. Also musste es ein Käfer sein. Der Käfer schien regelrecht näher zu kommen, und deutlich sah ich seinen grasgrünen Panzer und sechs dürre, zappelnde Beinchen, die äußerst zerbrechlich wirkten.

Seinen Kopf konnte ich nicht sehen, da dieser sich inmitten des Schnabels befand, so streckte er mir nur unfreiwillig sein kaum auszumachendes Hinterteil entgegen. Auf seinem Rücken machte ich deutlich ein interessantes, braunes Muster aus, das einem Wappen glich und ihm so etwas Ritterliches verlieh. Als der unbekannte Vogel leicht mit dem Kopf zuckte und der Käfer ein für allemal in seinem Rachen verschwand, raubte mir dies fast den Atem. Ich hatte zu hastig eingeatmet und hustete einige Male.

»Sollten Sie dort draußen seltsame Dinge sehen, dann brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, denn es soll Sie ja inspirieren. Lassen Sie sich aber auf keinen Fall zu sehr ablenken, dass Sie daraufhin das Schreiben vergessen. Notieren Sie ihre Eindrücke, Ideen und Assoziationen.«

Als ich wieder in ihre Richtung schaute, sah ich im unteren Augenwinkel etwas Weißes. Ich schaute hin und erkannte, dass ich einen Notizblock und einen dieser gelben Bleistifte nun vor mir liegen hatte. Ich blickte umher und registrierte, dass mittlerweile jeder der Kursteilnehmer die gleiche Ausrüstung besaß wie ich. Der Zauberlehrling grinste mich an, als ich ihn ins Visier nahm.

Die Bleistifte auf seinem Tisch waren verschwunden. Ich schüttelte innerlich den Kopf: So ein Spinner, dachte ich. Kurz ertappte ich mich bei dem Gedanken, nach dem zu suchen, der hier vielleicht die Notizblöcke herbeigezaubert haben könnte, verwarf ihn dann aber wieder.

»Nun wollen wir uns aber direkt der Inspiration zuwenden. Woher kommt sie? Was ist sie? Besitzt sie eine direkte Quelle oder ist sie nur eine zufällige Schaltung in unseren Gehirnwindungen?«

Langsam bekam hier wirklich alles den Charakter einer gewöhnlichen Schulstunde, aber es störte mich nicht weiter, denn ich war gekommen, um mich noch mehr inspirieren zu lassen. Einfach zu lernen und die Inspiration zu verstehen. Ja, ich wollte am liebsten direkt zur Quelle der Inspiration – wenn es so etwas überhaupt geben sollte – um endlich einmal herauszufinden, was oder wer dahinter steckte.

»Mag es vielleicht das Unbewusste sein, dass wir in seltenen Zuständen in Form einer offenen Tür vorfinden und alles hindurchfließen lässt, was wir zu wissen wünschen? Wer kann dies beantworten, wenn nicht der Empfänger und Autor selbst?«

Die hat gut reden, dachte ich und kaute auf dem Stift herum, ohne darüber nachzudenken, ob der Zauberlehrling darüber erbost sein könnte. Er brauchte sich aber nicht lange zu sorgen, denn das Radiergummi traf nicht meine Geschmacksrichtung, und ich entschied mich nun, nur noch damit herumzuspielen.

»Zum Anfang dieses Kurses bitte ich Sie all Ihre Vorurteile abzulegen und sich einmal zu fragen, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass so mancher Autor über Inspiration verfügt und mancher nicht? Woran liegt es genau, wenn Sie einfach die simplen Erklärungen fortlassen, die behaupten, es sei einem in die Wiege gelegt worden oder es sei Gottes Bestimmung?«

In meinem Fall war es weder Gottes Bestimmung noch die Wiege, dachte ich, sondern eher irgendein Ereignis in meiner Vergangenheit, so naiv es vielleicht klingen mag. Ein Ereignis, dass mein Leben derart beeinflusste, dass ich meinte, nun schreiben zu müssen, sei es einfach aus Spaß an der Sache selbst oder aus autotherapeutischen Gründen, um ein für alle Mal Schluss mit Depressionen zu machen, sich einfach alles von der Seele zu schreiben.

»Glauben Sie aber auch nicht, dass es ein vergangenes Erlebnis war, das sie dazu veranlasst hätte zu schreiben, denn die Veranlassung dazu impliziert noch lange nicht das Auftauchen der Inspiration. Das sind beides verschiedene Dinge. Es war also nicht die Vergangenheit, wie Sie nun logisch schlussfolgern können. Haben Sie vielleicht eine Idee dazu?«

Ich fragte mich langsam, ob diese Frau Gedanken lesen konnte.

Ein Mann meldete sich zu Wort. Er trug einen alten, grauen Hut, mit einem schwarzen Hutband, eine Nickelbrille und einen gammeligen Trenchcoat. Seine Hose und Schuhe konnte ich durch den langen Mantel in dieser sitzenden Position nicht erkennen. Der Mantel bedeckte eigentlich den ganzen Stuhl, so, dass es schien, als säße er auf gar keinem Stuhl, sondern vielmehr frei in der Luft. Ich stellte mir vor, wie ich dorthin ging und frech den Mantel hochhob, um zu sehen worauf er wirklich saß.

Wer weiß, was ich zu Gesicht bekommen hätte, dachte ich und grinste verschmitzt in mich hinein.

»Keine Ahnung!« sagte er und alle lachten.

Ich packte mir an die Stirn. Ich verstand nicht, warum er dann aufgezeigt hatte. Immerhin tut man das, wenn man etwas weiß und nicht, wenn man nichts weiß. Er grinste offensichtlich zufrieden, als hätte er eine passende Antwort gegeben. Selbst die Kursleiterin schien zufrieden zu sein.

Mein Blick schweifte wieder Richtung Fensterfront und ich starrte in die Ferne, weit hinaus, bis ich die ersten Sterne funkeln sah und mich direkt zu einer Reise in unendliche Weiten einlud. Der Mond, so leuchtend grell, zog links an mir vorbei. Kurz erhaschte ich Momentaufnahmen von gewaltigen Kratern und einem vergessenen Mondauto.

Dann kam ein roter Planet, der viel in seinem Leben gelitten hatte. Man sah die Narben auf seiner toten Oberfläche und ächzte durch den leeren Raum, um mir zu sagen, dass er sich über jeden Besuch freute, weil er seit Jahrhunderten keinen mehr hatte. Je schneller ich wurde, desto wahnwitziger wurden die vorbeihuschenden Bilder, die ich wahrnahm…

»Die Inspiration kommt in der Tat aus unterbewussten Schichten der Persönlichkeit, und sobald der Autor, oder die Autorin, immer wieder ihre Aufmerksamkeit darauf richten, entsteht mit der Zeit eine Art Gedankenstrahl, der, wie der Strahl einer Taschenlampe, das Bewusstsein des Schreibers erreicht, und ihn mit Informationen versorgt.«

…Diese Bilder rasten an mir vorbei und die Stille wurde nun von einem zischenden Geräusch zerrissen. Es erinnerte mich an das von Bäumen und Sträuchern, an denen man in einem schnell fahrenden Zug vorbeiraste, und den Kopf aus dem geöffneten Fenster gesteckt hatte. Der Zug war ich, und die Bäume und Sträucher Sterne und Planeten.

Plötzlich hielt ich vor einem fremden Planeten an. Schon aus einer Entfernung von vielen tausend Kilometern schien er im Gegensatz zum Mars geradezu Leben auszustrahlen. Wie beeindruckend die Aussicht auf einen Planeten aus dieser Perspektive wirklich sein kann, ist unbeschreiblich. Worte für derartige Empfindungen waren kaum zu finden und das einzige, was eine Ahnung darüber hätte vermitteln können, wäre die Vorstellung eines atomaren Modells aus dem Physikunterricht gewesen.

In der Mitte befand sich der Atomkern und diesen umkreisten brav Elektronen auf ihren Bahnen. Genauso konnte ich mir nun die Sonne als den Atomkern und die Planeten als die Elektronen vorstellen. Dieser Planet schien mich jedoch direkt anzublicken. Seine dunkle Seite bedeckte den linken Teil seiner Oberfläche und im nächsten Moment schmerzte es mich in den Augen…

»Der Informationsfluss kann auf Dauer stabiler und stabiler werden, das beinhaltet eine klarere Übertragung und könnte dann, mit etwas Übung natürlich, als eine jederzeit zugängliche Inspiration bezeichnet werden. Im Normalfall jedoch aktiviert sich dieser Gedankenstrahl nur in entspannten oder emotionalen Zuständen des Schreibers und tritt somit nur spontan und unvorhersehbar auf.«

…Die Sonne erschien direkt über dem Planeten. Es war ein Sonnenaufgang, auch wenn dieser Begriff aufgrund meiner Perspektive nicht ganz zutraf, und mir stockte der Atem und ich begann am ganzen Körper zu zittern. Wie unzulänglich ich mir selbst vorkam im Angesicht dieses wunderschönen Moments, und wie erhaben dieser Augenblick war. Er dauerte nur wenige Sekunden, bis mich die ganze Szenerie durchflutete und mir jeder Sonnenstrahl direkt ins Nervensystem schoss, und in mir Erinnerungen meines ganzen Lebens wachrief. Sie rasten in Form von dunklen Visionen an meinen Augen vorbei und vermittelten mir eine allmählich zunehmende Distanz von den Erfahrungen meines Lebens, meines Ichs, in einer so begrenzten Welt, mit einer allzu begrenzten Wahrnehmung. Diese Distanz gab mir einen beinah‘ unumschränkten Einblick in meine unterbewussten Schichten und ich wusste, dass genau dort die Inspiration lag, sie einfach dort liegen musste.

Ich brauchte sie nur aufzusuchen und zu berühren, sie würde sich wie eine zarte Knospe im ersten Sonnenlicht öffnen und mich einlassen…

»Der Weg zur Stabilisierung dieses Gedankenstrahls kann unterschiedlich und individuell verschieden sein, d.h. aber nicht, dass es derer Wege viele gibt. In den meisten Fällen tauchen Gefühle der Euphorie, also Glücksgefühle oder intensive Naturverbundenheit und manchmal sogar religiöse Gefühle auf, sobald der Gedankenstrahl konkretere Formen annimmt.«

…All meine Sehnsucht formierte sich in diesem Augenblick einfach nur darauf, mich von dieser Blüte aufnehmen zu lassen. Sofort tauchte ich in das Innere des Planeten ein, der sinnbildlich meine unterbewussten Schichten, ja mein ganzes Unterbewusstsein widerspiegelte. Dort! Dort sah ich ihn! Das war der Gedankenstrahl! Die Inspiration hochpersönlich!

Ich sah einen baumdicken Strahl, der aus dem Boden kam und ins Unendliche zu reichen schien. In ihm selbst flimmerten und glitzerten unzählige Funken. Die ganze Luft vibrierte leicht und lud sie statisch auf. Es knisterte und jede meiner Bewegungen verursachte ein hörbares Knistern.

Ich wagte es kaum, mich diesem Strahl zu nähern. Was würde geschehen, wenn ich einfach meinen Kopf dort hineinstecken würde, wagte ich zu überlegen, und ich versuchte mit aller Anstrengung so nah wie möglich an diesen Strahl heranzukommen. Im Hintergrund dieser klangvollen Umgebung vernahm ich ein fast unhörbares Brummen, als arbeitete ein ferner Generator in irgendeinem dunklen Keller.

Je näher ich aber kam, desto lauter schien dieses Brummen zu werden. Als ich mich unmittelbar vor dem Strahl befand, brauchte ich eigentlich nur noch meinen Arm auszustrecken und hineinzugreifen…

»Doch bevor wir uns näher mit diesem Phänomen beschäftigen, möchte ich Sie alle bitten, schnell einige Notizen ihrer bisherigen Erfahrungen zu machen und das nächste Mal wieder hier zu erscheinen. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen.«

Ich schaute die Kursleiterin an und dann meinen Wecker. Es war Zeit, den Kurs zu verlassen und mich anderen Dingen zuzuwenden. Die Dusche weckte meine Sinne. Die erste Unterrichtsstunde in dieser Nacht hatte mir sehr gefallen. Das nächste Mal nahm ich mir fest vor, auch einen dieser Bleistifte hervorzuzaubern.

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