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Die Entscheidung (Vergessenes – Teil 2)

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Die Entscheidung

(Vergessenes – Teil 2)

Eine Kurzgeschichte von Jonathan Dilas, 1996


Ich saß bereits seit Stunden an meinem Tisch und grübelte. Welch ein Widerspruch, tot und doch lebendig zu sein. Ich hatte viel zu verdauen, zumal ich gerade mit Schrecken erkannt hatte, dass ich tot war.

Meinen obligatorischen Panikanfall hatte ich bereits hinter mir und nun dachte ich über mein weiteres Leben nach, nun ja, wenn man es unbedingt so bezeichnen will. Ich hatte einfach kein Ziel mehr. Es gab keine Verabredungen mehr, auf die ich mich hätte freuen können, kein Wiedersehen mit einem neuen oder auch alten Freund. Keine Pausen mehr, in denen ich mich hinlegen und sagen konnte, dass es morgen weiter geht.

Dabei dachte ich an ein Computerspiel, bei dem man auf „Exit“ gehen konnte, wenn man seine Termine erledigt und sein Schiff fortgeschickt hatte, und dann war der nächste Spieler dran. So würde es nun nicht mehr laufen.

Mir kam es so vor, als würde es nie mehr eine Pause geben, in der alles dunkel war und man seine wohlverdiente Ruhe genießen konnte. Das hier war der Tod! Da gibt es keine Pausen, sondern nur Wachsamkeit non-stop und das sollte einer aushalten. Ich schüttelte mit dem Kopf. Wie sollte ich das schaffen?

Es gab einfach nichts, worauf ich mich freuen konnte, nur Einsamkeit! Wen kannte ich hier schon? Sollte ich mich etwa die ganze Zeit mit meinen Großeltern herumtreiben? Nein danke, dachte ich. Der Tod war scheiße. Ich wollte weiterleben.

Plötzlich wurde ich in meinen Gedanken unterbrochen. Laute Geräusche und Stimmen drangen an mein eigentlich nicht mehr vorhandenes Ohr. Ständig schlug etwas gegen die Wohnungstür. Für einen Moment kam ich mir wie in einem schlechten Alptraum vor, doch dann flog die Tür auf und ich erkannte, dass es sich um die Feuerwehr handelte. Ein Arzt und ein Polizist waren auch anwesend. Sofort sprang ich auf und rief nach ihnen, aber vergeblich, sie konnten mich nicht hören.

Mit intensiven Gefühlen kämpfend stand ich nun in der Ecke meiner eigenen Wohnung und musste zusehen, wie Fremde meinen Körper anfassten, ihn untersuchten, um ihn dann letzten Endes auf einer weißen Bahre herauszutragen.

Ich konnte es nicht fassen. Dort trugen sie meinen Körper aus der Tür hinaus und ich stand daneben und schaute zu. Es war wirklich ein Alptraum!

Ich wollte gar nicht weiterdenken, wohin sie nun meinen Körper stecken würden, usw. Und all meine Privatsachen, was sollte aus ihnen werden? Meine Erinnerungsstücke, was würde mit ihnen geschehen? Was man gebrauchen kann, steckt man ein, und was nicht, wird auf den Müll gebracht.

Ich erkannte, dass ich hier nichts mehr verloren hatte. Hier hatte ich mich wenigstens noch ein bisschen sicher gefühlt, aber jetzt… wohin jetzt? So ging ich, ohne weiter auf meine Umgebung zu achten, mit gesenktem Blick durch die Tür.

Unten vor dem Haus stand wieder dieser Mann mit der Halbglatze.

„Na, mein Freund, dich hat ja wirklich ein hartes Schicksal ereilt.“

Ich konnte auf diesen Kommentar nichts entgegnen. Stumm ging ich an ihm vorbei.

„Erinnerst Du Dich immer noch nicht?“ rief er mir nach.

Erinnern? Woran? Ich konnte mich ja noch nicht mal an meinen eigenen Tod erinnern.

„Lass mich in Ruhe!“, rief ich zurück und ging weiter.

Tom lief einfach hinter mir her und redete auf weiter auf mich ein. Er erzählte etwas von einer Art Allianz, bei der er wäre und dass ich auch dazu gehören würde. Ich konnte diesem Schwachsinn einfach nichts abgewinnen.

Abrupt blieb ich stehen, dass er beinahe gegen mich lief – falls das hier überhaupt möglich war.

„Was willst Du?“ schrie ich fast. „Lass mich in Ruhe sterben!“

„Aber Du bist doch schon tot…!“

„Ach, was weißt Du schon, wie es um mich steht!“ warf ich ihm vor.

„Du meinst, ich wüsste das nicht? Du denkst jetzt, dass es kein Ziel mehr für Dich gibt, dass Du hier keine Freunde hast, dass es keine Pausen, keine Ruhe mehr für Dich gibt und der Tod eine einzige Plage ist. Glaube mir, Du bist nicht tot! Du lebst ab jetzt nicht mehr nur zur Hälfte, sondern Du bist ununterbrochen wach. Wie kann man tot sein, wenn man ununterbrochen wach ist?“

Seine Argumente waren interessant, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich reinlegen wollte und etwas im Schilde führte.

„Und was sollte der Quatsch mit der Allianz?“ fragte ich.

„Du wirst mir vielleicht noch misstrauen, aber ich versichere Dir, wenn Du Dich erinnern würdest, dann wüsstest Du, dass Du zu dieser Allianz gehörst, dass wir die ganze Zeit auf Dich gewartet haben, wie Du auf uns gewartet hast. Denke an Dein Leben zurück. All die Dinge, die Du getan hast, hast Du nur gemacht, weil Du auf etwas gewartet hattest. Hattest Du nicht stets das Gefühl, nur zu warten?“

Ich musste zugeben, dass ich mich einige Male so gefühlt hatte.

„Du hast nur darauf gewartet, endlich wieder zu uns kommen zu können, zur Allianz!“

Dieses Allianz-Gerede machte mich sichtlich nervös. Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.

Es klang für mich, als wäre das alles nur ein verrückter Traum. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dass sie meinen Körper aus meiner Wohnung getragen hatten, dann würde ich hier alles anzweifeln und mir ganz fest wünschen, endlich aufzuwachen. Und dieses Gerede über das Erinnern… nun ja, als ich mich anfangs auf dem Bett sitzend wiederfand, da konnte ich mich noch nicht einmal daran erinnern, dass es sich dabei um meine Wohnung gehandelt hatte.

Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Woher wusste ich eigentlich, wer ich war? Stimmt, Tom hatte mir gesagt, dass mein Name Frank sei! Ich war also Frank. Ja, stimmt, ich war Frank!

„Ich bin Frank!“ rief ich aus.

In diesem Moment lachte Tom lauthals.

„Frank!“ er lachte weiter. „Frank!? Ich lach mich tot!“

„Aber, aber Du hast doch selbst gesagt, dass ich Frank heiße.“

Er schaute mich an und wischte sich eine Lachträne fort.

„Das habe ich doch nur so gesagt“. Er lachte weiter.

Damit nahm Tom mir auch noch meinen letzten Strohhalm. So hätte ich mich wenigstens noch an meinem Namen festhalten können, aber so?

Als ich ein Stück weiter gegangen war, fiel mir plötzlich auf, dass das Lachen verschwunden war. Ein grelles Licht leuchtete mir in die Augen. Für einen Moment konnte ich eine brennende Glühlampe sehen, aber dann entpuppte sie sich doch zu einem Fensterlicht. Jemand hatte wohl Licht gemacht.

Tom war verschwunden! Dieses Gefühl stieß regelrecht in meinen Bauch und ich drehte mich augenblicklich um. Tatsächlich, er war verschwunden! Ich fühlte kurz so etwas wie Reue, ja, ich bereute ein wenig, so unfreundlich gewesen zu sein. Immerhin war er die ganze Zeit freundlich gewesen und hatte auch Humor bewiesen, selbst wenn es dabei auf meine Kosten ging.

Diese Überlegung brachte mich aber wieder zu der Frage, wer ich denn wirklich sei? Wie denn mein richtiger Name lautete, und da stand ich wieder an einem mir nun so bekannten Punkt: Ich wusste einfach nicht mehr, wer ich war und woher ich kam.

Ich versuchte mich immer wieder zu erinnern. Immer wieder fragte ich mich selbst, wer ich denn nun sei, aber ich blieb erfolglos, bis plötzlich jemand vor mir stand.

Ich blickte auf und schaute in das Gesicht einer Frau. Sie war ungefähr 1,70 groß, hatte halblanges, dunkles Haar und eine sehr warme Ausstrahlung.

„Hallo,“ sagte sie so leise, dass es fast wie ein Flüstern klang.

Sofort beschlich mich ein seltsames Gefühl. Es schien mir so, als würde ich diese Frau kennen. Dieses Gefühl äußerte sich dann als unangenehm und zerrend, dass es mich fast ängstigte. Ja, es ängstigte mich, sie anzuschauen, ihr in die Augen zu blicken, mich vielleicht daran zu erinnern, woher ich sie kannte. Ich fürchtete mich, dass ich mich zu Tode erschrecken würde – falls das noch einmal möglich wäre – wenn ich mich erinnerte, wer sie wirklich war.

„Ich bin es! Erinnerst Du Dich nicht?“

Langsam kamen mir Bilder ins Bewusstsein… ja, ich erinnerte mich mit einem Mal an sie. Sie war die Frau, die ich über alles geliebt hatte. Nicht, dass sie meine Partnerin gewesen sei, nein, damit hatte diese Liebe nichts zu tun. Es war eine intensive und fast grenzenlose Zuneigung gewesen, eine völlige Hingabe an diese Frau… aber diese Frau war schon lange tot.

Ich weinte.

Mit einem Mal erinnerte ich mich an diese Frau, die ich über alles geliebt und dann verloren hatte. Und nun, nun stand sie vor mir und war zurückgekommen! Ich umarmte sie schluchzend. „Endlich bist Du zurück gekommen!“ stammelte ich.

Sie drückte mich einmal und strich mir über den Kopf.

„Weißt Du, ich bin extra wegen dir gekommen. Ich wollte dich abholen.“

„Wohin?“

Ich löste mich von ihr und schaute sie an.

„Du kommst jetzt mit mir zur Allianz.“

Nun fing sie auch damit an.

Plötzlich erinnerte ich mich weiter. Diese Frau war bereits seit vielen Jahren tot! Sie existierte gar nicht mehr! Mir wurde auch klar, warum ich sie vergessen hatte. Ich konnte den Schmerz ihres Verlustes nicht ertragen und vergaß sie. Nie mehr wollte ich mich an sie erinnern! Und nun stand sie vor mir, besser, jemand stand vor mir und behauptete, dass sie diese Frau sei. Wie ein Blitz durchfuhr es mich, hinter dieser Maskerade steckte Tom. Das Gerede über diese Allianz war Beweis genug. Ich stieß sie fort.

„Tom, Du glaubst doch wohl nicht, dass ich auf Dich hereinfalle?“

Sie schaute mich verwirrt an und senkte dann den Blick.

Für einen kurzen Moment bekam ich Zweifel, ob ich mich denn nun richtig verhielt und dann glitt ich in einen großen Zwiespalt. Auf der einen Seite sah ich diese Frau, die ich über alles geliebt hatte, und auf der anderen Seite sah ich Tom, wie er mich mit irgendwelchen Zaubertricks hereinlegen wollte. Was war denn nun richtig?

Diese Frage hämmerte in meinem Kopf und schien unbeantwortbar zu sein. Waren es Illusionen, mit denen man mich austricksen wollte, oder stimmte das alles? Vielleicht war sie es wirklich, vielleicht ist sie wirklich zurückgekehrt, um mich zu alten Freunden mitzunehmen, dessen Existenz ich vergaß… Ich zitterte am ganzen Körper und konnte diesen Konflikt wohl nicht anders lösen, als sie fortzustoßen und einfach wegzulaufen.

„Robert, hör mir doch zu!“ rief sie.

Ich blieb urplötzlich stehen. Sie hatte mich Robert genannt! Genau, das war mein Name! Robert! Aber woher wusste sie ihn?

Kurz zweifelte ich und für einen Moment fühlte ich ein altes, vertrautes Gefühl ihr gegenüber, aber es verschwand wieder und dann wollte ich nur noch weg von hier. All diese verrückten Dinge, die passiert waren und dann das überraschende Auftauchen jener Frau, die ich allem Anschein nach, einfach vergessen hatte. Diese ganzen Vorkommnisse waren unglaublich und einfach zu viel für mich.

Nach einiger Zeit ging mein Laufen in normales Gehen über und ohne zurück schauen zu müssen, wusste ich, dass sie dort nicht mehr stand. Sie war gegangen.

Auch Tom war spurlos verschwunden. Dieser ganze Spuk hatte ein Ende gefunden! Ich lief nur noch durch die Straßen und irgendwann setzte ich mich in einen Hauseingang. Dort blieb ich für Stunden sitzen und das ganze Geschehen lief immer wieder wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab.

„Robert? Robert? Geht es Dir nun besser?“

Ich öffnete meine Augen. Ich schaute in das Gesicht einer Freundin. Nach einigen Sekunden fiel mir sogar ihr Name ein. Ja, ich kannte sie! Sie war eine alte Freundin. „Wo bin ich?“ fragte ich.

„Du befindest Dich in einem Krankenhaus. Dein Nachbar hatte die Polizei gerufen, weil er Rufe gehört hatte, und dann haben sie Deine Tür aufgebrochen und Dich sofort ins Krankenhaus gefahren.“

In Windeseile fügten sich meine ganzen Erinnerungen zu einem neuen Bild zusammen. Die Feuerwehr, dann haben sie mich aus meiner Wohnung getragen, also war ich gar nicht tot! Ich richtete mich auf und Tränen schossen mir ins Gesicht. Alles war nur ein böser Traum gewesen! Ich erinnerte mich an Tom und an diese Frau, aber nun wusste ich, alles war nur ein Traum!

Fieberhaft begann ich zu stammeln und dann floss alles aus mir heraus:

„Du wirst es mir nicht glauben, aber ich befand mich in einer Art Traum, von dem aus sah ich, wie die Feuerwehr meine Wohnungstür aufgebrochen und mich heraus getragen haben. Es war wirklich erschreckend, denn ich dachte ich sei tot. Und dann, dann traf ich einen Mann, der behauptete ich sei Frank, aber dann meinte er, dass er gelogen hätte…“

„Du solltest Dich erst einmal ausruhen! Leg Dich wieder zurück!“

„Nein. Du musst Dir vorstellen, dort traf ich dann eine Frau, die ich mal über alles geliebt hatte, aber das waren alles nur Illusionen! Alles von diesem Tom erzeugt! Es war unglaublich, welche Tricks der drauf hatte. Später bin ich dann geflohen. Ich hätte denen fast geglaubt, aber das waren alles nur Tricks! Die wollten mich reinlegen, austricksen, verstehst Du? Aber nicht mit mir! Ich habe es geschafft! Wie gut, dass ich wieder hier bin. Da fällt mir wirklich ein Stein vom Herzen und ich dachte schon, dass sei alles wahr gewesen! Ha, wie konnte ich nur einen Moment lang an mir zweifeln? Ich bin ihnen auf jeden Fall entkommen! Ich bin ihnen entkommen!“

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