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Die Informantin

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Die Informantin

(Fantastische Kurzgeschichten von © Jonathan Dilas)


Es war an einem regnerischen Sonntagnachmittag. Ich schaute aus dem Fenster und sah die endlosen Bindfäden zu Boden fallen, ab und zu flogen ein paar Vögel am Fenster vorüber. Ein geräuschvoller LKW raste vorbei und ich hörte deutlich, wie er gerade durch eine große Pfütze fuhr, als mein Kollege ins Büro stürmte und mich mit ernstem Gesicht begrüßte. Er kam sofort zur Sache:

»Du, ich hab hier draußen einen neuen Fall. Der Chef hat gesagt, du sollst dich darum kümmern. Mach das bitte. Sie war erst bei mir und die ist völlig abgedreht. Gänzlich paranoid. Meine Stellungnahme dazu ist klar. Bernard hatte sie auch schon in der Mangel, wir sind alle einer Ansicht. Egal, wie du dich entscheiden wirst, die kommt weg.«

In solchen Momenten fragte ich mich stets, wieso ich hier überhaupt noch arbeitete, wenn meine Entscheidungen keine Wirkung mehr besaßen? Doch ich nickte und überließ wieder einmal zu viel anderen Instanzen die Entscheidung als meinem Durchsetzungsvermögen.

»Bring‘ sie rein«, sagte ich, und er verschwand wieder mit einem freundlichen Nicken.

Als erstes nahm ich das Klackern ihrer Absätze wahr. Als mein Blick hochfuhr, sah ich eine schlanke Frau in den Dreißigern mit einer Sonnenbrille, dunklem Haar, das zu einem Pagenschnitt geschnitten war, und einem dunkelgrauen, enganliegenden Kostüm. Kaum saß sie mir gegenüber, fingerte sie eine Zigarette aus einem silbernen Etui, und zündete sie sich mit leicht zur Seite geneigten Kopf an. Den ersten Zug blies sie auffällig laut und schnell aus und schlug daraufhin ihre Beine übereinander. Sie war eine sehr attraktive Frau, auch wenn sie eine gewisse Unruhe mitbrachte, die mich sofort an meinen hektischen Urlaub in Tokio erinnerte.

»Wissen Sie«, begann sie das Gespräch, als plötzlich das Telefon klingelte. Es war kein Gespräch von außen, sondern aus dem Institut selbst. Ich bat sie, eben zu warten und hob ab: »Ja?«

»Bernard hier.«

»Was gibt’s? Wo sind die Unterlagen?«, fragte ich und spielte damit auf die Akte dieser Frau an.

»Du musst in den BND-Rechner, das Passwort für einen begrenzten Zugang ist die Benutzerkennung deines Anschlusses. Ihre Akte ist 4456-782A. Dort findest du alles.«

»Gut, danke.«

Ich legte auf und schaltete meinen Monitor ein, die Rechner waren stets online. Natürlich waren meine Kollegen nicht mit einer Webseite vertreten, sie waren also nicht so schnell im Netz zu entdecken, höchstens mit der richtigen Adresse konnte man diese versteckte Seite schnell aufrufen. Die hellblaue Seite mit dem Regierungsemblem lud nicht gerade ein, länger zu verweilen, wenn man nicht für die Regierung arbeitete und keinen Zugangscode besaß. Die Eingabe das Passwortes verlief zügig, und ich betrat das Heiligtum des deutschen Geheimdienstes.

Ich schob meinem Besuch einen Aschenbecher entgegen, und nickte ihr zu, damit sie verstand, dass ich ihr sofort zur Verfügung stünde.

Nachdem ich ihre Akte aufgerufen hatte, sah ich sofort ein Bild von ihr und dem deutlichen Vermerk »STRENG GEHEIM« in roten Buchstaben, der quer auf der linken Seite zu sehen war.

»Ihr Name ist also Jaqueline Germaine. Sie stammen aus Frankreich, Leon.«

Sie kümmerte sich nicht um meine Feststellungen und zog weiter an ihrer Zigarette, als sei sie das einzige, was sie noch in ihrem Leben besaß.

»Wissen Sie«, begann sie mit zitternder Stimme erneut ihren Satz, »diese Schweine haben mich echt fertig gemacht.«

»Hat man sie körperlich bedroht?« fragte ich sofort nach, denn ich hielt nicht viel von dieser Methode und in meinen Gedanken war ich schon wieder am Telefon, um Bernard oder Mertens anzurufen.

»Ja natürlich! Aber nicht so, wie Sie es meinen«, entgegnete sie und drückte ihre Zigarette aus. Der Stummel blieb achtlos liegen und brannte noch an einer Seite. Qualm stieg auf. Ich kannte den Geruch von verbranntem Filter.

»Man hat mir nicht wehgetan.«

Ich nickte zufrieden und fragte sie weiter einige Details aus der Akte, nur um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Sie erschien mir völlig verängstigt und verkrampft, als hätte sie etwas Schreckliches erlebt. Meiner Meinung nach stand diese Person unter Schock. Ich machte mir ein paar Notizen über meine Eindrücke, das half mir immer Distanz zu wahren und eine gewisse Autorität auszustrahlen.

»Sie erinnern mich an diesen schwachsinnigen Psychiater, der mich sogar nach meiner Muschi gefragt hat. Können Sie sich das vorstellen? Was geht den meine Muschi an? Am liebsten hätte ich ihn zu Boden geprügelt, aber ich habe nicht die körperliche Kraft, um mich von Euch Blutsaugern zu befreien.«

Es war erstaunlich. Sie hatte all diese Worte ausgesprochen, ohne jede Regung in ihrem Gesicht. Man konnte deutlich fühlen, dass in dieser Aussage keine wirklichen Emotionen steckten. Sofort kamen mir Assoziationen zu Psychopathen in den Sinn, die dazu neigten, Gefühle vorzuspielen, aber eine unbarmherzige Kälte in sich trugen. Offensichtlich log sie und wollte mir etwas vorspielen.

Die Person ist bewaffnet und als gefährlich einzustufen. Sie hat Regierungseigentum illegal in ihren Besitz gebracht und zwei Beamte des BND mit einer Schusswaffe tödlich verletzt.

»Was ist denn vorgefallen? Aus welchem Grund, glauben Sie, hat man Sie hierhin gebracht?«

»Fragen Sie doch die anderen, Ihre Freunde! Die wissen doch über alles Bescheid!«, sagte sie und setzte nun endlich ihre Sonnenbrille ab. Sie besaß grüne Augen, die entgegen ihrer Persönlichkeit eine unglaubliche Ruhe ausstrahlten.

»Ich lass mich trotzdem nicht unterkriegen von euch Wichsern! Ich weiß genau, was ihr treibt! Ich hab alles gesehen! Ich war dabei! Ich bin stark. Ihr schafft mich nicht noch einmal. Ihr macht mich nicht zu einem Lamm.«

Auszug aus dem Bericht des zuständigen Psychiaters Prof. Dr. Stein: Notorische Lügnerin…, ständig darauf bedacht, die objektive Realität in einen für sie passenden Rahmen umzuinterpretieren, um ihre Mitmenschen Glauben zu machen, sie sei ein Opfer.

»Haben Sie Mitleid mit mir? Glauben Sie etwa, Sie sind besser dran? Ich habe kein Mitleid mit Ihnen! Mit keinem von euch! Sie sind alle gekauft und wissen es sogar! Das ist das Schlimme. Dort draußen, da sind die Unwissenden, aber hier, hier wissen sie Bescheid«, äußerte sie mit einer mittlerweile ruhigen Stimme, wieder ohne emotional beteiligt zu sein.

»Wie kommen Sie zu dieser Überzeugung?«

»Ich hab’s gesehen, so, wie ich Sie nun vor mir sehe. Ihre Antennen, ihre seltsamen Geräte. Alles von draußen importiert.«

»Antennen, aha.«

»Die werden mich sowieso umbringen, also was soll’s. Ich kann Ihnen alles erzählen. Ich habe gerade gehört, wie Ihr Kollege sagte, dass ich wegkomme. Ich bin erledigt. Tot!«

»Das ist völliger Unsinn, Frau Germaine. Sie werden aufgrund Ihrer Taten und der mir hier vorliegenden Akte in ein psychiatrisches Sanatorium überwiesen. Sie müssen sich nicht wundern, immerhin haben Sie zwei Menschen getötet!«

»Das weiß ich«, sagte sie plötzlich mit leiser Stimme. Sie senkte ihren Blick und ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper, dann richtete sie sich wieder auf und ihre Gesichtszüge veränderten sich schlagartig: sie wurden ernst und entschlossen. Ja, es war eindeutig eine tiefe Entschlossenheit in ihr zu sehen, wenn nötig, bis in den Tod.

»Ich habe mich nur gewehrt!»

Frau Jaqueline Germaine ist manisch-depressiv und neigt zu gewalttätigen Ausbrüchen. Zuweilen erfährt sie schwere schizoide Schübe denen meist intensive paranoide Phasen nachfolgen.

»Ein Mann ist in meine Wohnung eingedrungen. Meine Wohnung ist mein Reich, da hat niemand etwas zu suchen. Er hatte meine Tür aufgebrochen und ist mit gezogener Waffe auf mich los. Ich konnte ins Schlafzimmer fliehen und hinter mir zusperren. Als er die Tür eintrat, war ich vorbereitet und habe geschossen.«

Sie wechselte ihre Sitzposition und schlug nun das eine Bein über das andere.

»Ein anderes Mal befand ich mich auf der Flucht vor zwei dieser Typen. Einer von denen hatte mich in einem Bus entdeckt. Es war unglaublich. Er hatte mich in diesem Linienbus entdeckt. Ich bin dann zwischen die Sitze gerutscht, und als er in den Bus kam, bin ich aufgesprungen und habe geschossen. Dabei habe ich niemand anders getroffen, nur diesen verdammten Bastard.«

Besonders bevorzugt sie es, sich als Opfer der Regierung darzustellen und beschuldigt diese unlauterer, widerrechtlicher, aber immer fiktiver Vorgehensweisen, die ausnahmslos ihren persönlichen Wahnvorstellungen entspringen.

»Sie können doch nicht auf Regierungsbeamte schießen.«

»Das weiß ich selbst, Sie Neunmalkluger. Die haben sich überhaupt nicht ausgewiesen! Sie haben mich gesehen und sofort auf mich schießen wollen. Ihr Auftrag war es, mich zu töten, nicht mich in ein Sanatorium zu überweisen, wie es dort vielleicht in Ihren schlauen Akten steht. Sobald ich dieses seltsame Gebäude hier verlasse, wird dies das letzte gewesen sein, was ich in meinem Leben sehe. Glauben Sie mir. Die wollen mich beiseite schaffen. Da gibt es keinen Ausweg für mich.«

Nun schwang sie das eine Bein immer wieder vor und zurück. Ihre Nervosität nahm offensichtlich zu, auch schaute sie ständig über ihre rechte Schulter zur Tür, als erwartete sie schon die Vollstrecker.

Der zuständige Psychiater hat eindeutig festgestellt, dass eine Einweisung in ein entsprechendes Sanatorium unumgänglich ist. Eine geschlossene Abteilung ist unbedingt erforderlich. Die dazu notwendigen Entmündigungspapiere liegen bereits vor.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich versichere Ihnen, dass man Ihnen kein Leid antun wird. Ich persönlich werde Ihre Überführung ins Sanatorium überwachen.«

Sie schaute mich an. Es war ein kurzer, aber intensiver Blick. In dieser Sekunde sah ich die Verzweiflung in ihren Augen, das Wissen um ihren bevorstehenden Tod, doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was es so Wichtiges geben konnte, dass man sie dafür beiseite schaffen wollte. Darüber hinaus konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Regierung eine Frau töten würde, nur weil sie vielleicht etwas gesehen hatte. So etwas darf eine Regierung nicht tun, weil sie dann selbst des Mordes schuldig wäre.

»Sie werden mich umbringen, glauben Sie mir. Sie werden es tun. Egal, was Sie meinen, noch tun zu können.«

Ich wurde langsam unsicher. Ihr Blick hatte Bände gesprochen! Ich konnte mir zwar vorstellen, dass sie diese Geschichten erfand oder sie eigennützig uminterpretierte, damit man sie schnell wieder freiließ, aber nicht, dass sie diese Gefühle beliebig erzeugte. Sie wirkte zu Anfang sehr gespielt und kalt, aber mittlerweile hatte sich dies geändert. Sie wechselte nun von traurigen Phasen zu aggressiven, die ihren Zorn auf die erschossenen Beamten zum Ausdruck bringen sollte, und um diese Tat vor sich selbst zu rechtfertigen. Gewiss besaß sie ein schlechtes Gewissen, denn sie schaute manchmal zu Boden, um ihre Tränen zu verbergen.

In diesem Moment stand ich an einem Wendepunkt. Entweder ich gab einfach meinen Code auf dem Bildschirm ein, um damit die Angaben in ihrer Akte zu bestätigen, oder ich fragte sie nach ihrer Geschichte. Ich überlegte lange. Ein drückendes Schweigen lag im Raum, und wurde nur durch den ausgeblasenen Rauch ihrer Zigarette gestört.

»Ich kann Ihren Ausführungen nicht folgen. Erzählen Sie mir einfach von Anfang an, was geschehen ist.«

Ihre dauernde Bewegung mit dem Bein hielt inne. Sie blickte mich überrascht an. Ich hätte gern gewusst, was sie in diesem Moment dachte.

»Sie begeben sich in Gefahr, wenn ich Ihnen alles erzähle. Sie sind dann ein Mitwisser. Solche Leute werden in dieser Welt nicht gern gesehen. Es kann dann sehr schnell vorkommen, dass Ihnen ein Unfall zustößt. Das wollen Sie doch nicht… Ich kann das auch nicht verantworten.«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie denken, dass wir abgehört werden, schalte ich unseren Magneten ein. So nennen wir scherzeshalber ein Störungsgerät für Abhöranlagen.«

Sie lächelte. Ja, sie lächelte. Anscheinend stellte sie das mehr als zufrieden.

Demonstrativ erhob ich mich und ging zu einem kleinen Kasten, der leicht versteckt hinter dem Vorhang hing. Dort befand sich der Magnet. Ich öffnete ihn und legte einen Kippschalter um. Danach setzte ich mich wieder.

»Sehen Sie, alles in Ordnung.«

Es war nicht so, dass ich ihr einen Gefallen tat, denn es ging mir ganz allein nur um ihr Vertrauen. Paranoiker kann man nur beruhigen, indem man sich etwas auf ihre Gedankenwelt einlässt, aus keinem anderen Grund hatte ich den Magneten aktiviert.

»Und ich kann jetzt frei reden?«, fragte sie fast schüchtern.

Ich nickte.

Mir war kurz so, als verschwand das Bild für einen Moment. Das Büro, Mademoiselle Germaine und all das, was ich wahrnehmen konnte, doch das Bild kehrte in einem Sekundenbruchteil wieder zurück.

»In meiner Studienzeit habe ich mich schon immer für die neuesten Erkenntnisse der Parapsychologie in Verbindung mit Geheimgesellschaften und Aufbau politischer Gesellschaftssysteme interessiert, aber irgendwann hat man alles gelesen und sucht sich dann ein neues Hobby. Doch in meinem Fall kam es ganz anders: Eines Tages gab es einen Stromausfall in dem Viertel, wo ich lebte. Für einen Moment konnte ich auf einem Dach des Rathauses eine seltsame Anlage entdecken, die aber im nächsten Moment wieder verschwunden war. Das einzige, was mir zur Beschreibung dieser sonderbaren Anlage einfiel, war das Wort ‚Antenne‘. Es sah einfach aus wie eine Antenne mit mehreren Spiralen daran. Es war nachmittags, und so ging ich nach draußen, um mich davon zu überzeugen, dass es nur eine Einbildung gewesen war.

Tatsächlich, es musste eine gewesen sein. Ich konnte nämlich diese geheimnisvolle Anlage auf dem Dach nicht wiederfinden. Nachts in meinen Träumen tauchte diese Anlage immer wieder auf. Strahlen gingen von ihr aus, und ich sah sie gleichzeitig auf vielen Dächern. Meistens waren es institutionelle Gebäude oder Hochhäuser. Mir ließ der Gedanke keine Ruhe, dass es vielleicht keine Halluzination oder sonst etwas dergleichen gewesen ist, und ich vertraute mich einem Freund an. Er sah sofort, dass ich mich damit wie besessen auseinandersetzte und kam zu dem folgenschweren Entschluss, einen weiteren Stromausfall zu erzwingen. Wir waren so weit in unseren Schlussfolgerungen gelangt, dass wir sogar die Möglichkeit einräumten, dass diese Antennen unsichtbar sind und ihre Unsichtbarkeit durch das normale Stromnetz gespeist wird. Doch bei einem Stromausfall dauerte es eine kurze Zeit, bis sie vielleicht auf Notgeneratoren oder etwas Ähnliches umschalten konnten und wieder verschwinden. In dieser kurzen Zeit mussten sie jedoch sichtbar sein. Er war überzeugt, unsere Paranoia durch einen selbst verursachten Stromausfall im ganzen Wohnviertel entweder ein für alle mal zu bestätigen oder zu beseitigen. Also machten wir uns ans Werk. Wir stiegen in eins dieser Stromhäuschen ein, das sich ganz in unserer Nähe befand und unterbrachen das Stromnetz. Diesmal hatte ich eine Videokamera dabei und sie genau auf das Dach des Rathauses gerichtet. Es würde uns nichts entgehen, wenn es dieses Ding wirklich gab.«

Das Telefon klingelte.

»Ja?«

»Bernard wieder hier. Warum hast du den Magneten an?«

»Warum wohl?«, antwortete ich.

»Wollt Ihr nicht, dass man Euch hört?«, hakte er nach.

»Nun rede keinen Unsinn. Das ist eben Psychologie.«

Bernard räusperte sich.

»Willst du sagen, du machst das, um ihre Paranoia zu beruhigen?«

»Sehr gut erkannt. Ich schicke die Post gleich zu euch rüber.«

»Gut, mach‘ nicht so lang.«

Als er auflegte, wunderte ich mich doch etwas über sein Verhalten: Woher wusste Bernard, dass ich den Magneten eingeschaltet hatte? Es gab doch keine Kontrolllampe außerhalb meines Büros. Es sei denn… sie hatten uns abgehört. Das war die plausibelste Erklärung.

»Die haben sich beschwert, weil sie Ihren Magneten eingeschaltet haben, stimmt’s?«

In Gedanken verloren nickte ich einfach.

»Wundert Sie das nicht?«, bohrte sie weiter.

Ich nickte wieder. Doch dann fing ich mich und meinte, dass es vielleicht ein Zufall war, dass Ihnen das aufgefallen ist. Eigentlich biss ich mir auf die Zunge, weil ich ihr Recht gegeben hatte. Ich hätte nicht nicken sollen.

»Als wir unsere Videoaufzeichnung checkten, sah ich diese Anlage wieder. Mein Freund war so geschockt, dass er leichenblass wurde und mich entsetzt anblickte. Er meinte, dass es aussähe wie eine Antenne. Verstehen Sie? Er hatte denselben Eindruck wie ich.«

»Nun gut«, erwiderte ich, »er hatte einen ähnlichen Eindruck, aber was soll das schon bedeuten?«

»Zu diesem Schluss sind wir wohl auch gekommen. Wir hatten trotz des Videobandes nichts in der Hand. Darum mussten wir absolut sicher gehen. Dazu verschaffte mein Freund sich Zugang zum Dach des Rathauses und mithilfe der Videoaufnahmen konnten wir die Antenne ganz genau lokalisieren und… ausschalten.«

»Habe ich Sie richtig verstanden? Sie sind auf’s Dach geklettert und haben diese unbekannte Apparatur ausgeschaltet? Wie haben Sie das gemacht?«

»Mein Freund hat ein Seil darum gebunden und ist dann wieder heruntergekommen. Von unten haben wir dann kräftig gezogen, bis es aus der Verankerung riss und vom Dach fiel. Es war wirklich ein verrücktes Bild, wie wir an etwas zogen, dass man nicht sehen konnte. Als dieses Ding vom Dach fiel, wurde es sofort sichtbar. Es schlug auf dem Boden auf, und Sie glauben nicht, was dann passiert ist. In diesem Moment konnten mein Freund und ich glasklar denken! Wir durchschauten einfach alles.«

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich nachfrage. Was meinen Sie mit ‚alles durchschauen‘?«

»Ja, wir haben alle Machenschaften der Regierung durchschaut. Noch nie hatten wir so klar und genau in unserem Leben gedacht, nachdem dieses Ding von uns unschädlich gemacht worden war. Wir hatten nicht viel Zeit dieses Ding zu untersuchen, aber es besaß tatsächlich eine Notversorgung in Form eines Akkus, der bei einem Stromausfall die Energieversorgung übernahm, aber nicht genügend Leistung besaß, um sie zu tarnen. Außerdem bestand es aus einem uns unbekannten Metall. Es war kein Aluminium, aber erinnerte mich irgendwie daran. Dieses Ding war tatsächlich eine Antenne, die, unserer Meinung nach, Gedanken aussendet. Diese Gedanken bestimmen die Interpretation der Gefühle und die der Erfahrungen, die man im Alltag macht. Das ist alles. Hört sich wenig an, aber ist eine ganze Menge.«

Ich wurde langsam unruhig auf meinem Stuhl. Wenn sie die Wahrheit sprach, aber auch nur wenn, dann würde sich damit schon das eine oder andere erklären lassen. Zumindest war ich dann einer von denen, die nicht eingeweiht wurden. Vielleicht, so schlussfolgerte ich, bekam ich in diesem Institut auch deshalb immer wieder Fälle zur Bearbeitung, über die schon entschieden wurden. Manchmal durfte ich auch einen Fall entscheiden, aber das waren kleinere Delikte. Unbedeutend. Das brachte mich auf eine Idee.

Ich rief die Jahresstatistik unserer bearbeiten Fälle am Monitor auf und schaute nach, welche Fälle bereits entschieden waren, bevor ich eine Entscheidung hätte treffen können. Nach einigen Minuten hatte ich es. Es stimmte zwar nicht, dass ich nur kleine Fälle erhielt, bei denen ich mitbestimmen konnte, aber die Fälle, die schon entschieden waren, bevor ich um eine Stellungnahme gebeten wurde, waren ausschließlich Personen mit paranoiden Verhaltensweisen. Immer wieder die gleichen Aussagen: »Ich glaube ich werde verfolgt«, »Ich glaube, ich werde bewacht und ausspioniert« und »Sie sind hinter mir her!«.

Es war verblüffend. War dies alles ein Zufall?

Mademoiselle Germaine musste mitbekommen haben, dass mich etwas fieberhaft beschäftigte. Sie räusperte sich leicht, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Bestimmt hat es nun in Ihrem Kopf zu arbeiten angefangen, oder? Durchschauen Sie nun das ganze System endlich?! Ich hab’s mir gedacht, dass Sie einer von denen sind, die nicht Bescheid wissen. Sie sind viel zu nett und offen. Die anderen beiden Wichser haben mich nicht einmal richtig angehört. Sie wussten sofort, was sie über mich zu denken hatten. Sehen Sie ruhig in Ihrem Rechner nach. Da werden Sie die Antworten finden. Sehen Sie nur nach.«

Es war ein bedrückender Moment. Ich hätte wirklich nicht nicken sollen.

Wieder war ich an einem Wendepunkt angelangt. Entweder log Sie das Blaue vom Himmel herunter und war dazu eine geschickte Manipulatorin oder sie war einfach nur verrückt, oder aber sie sprach die Wahrheit. Verrückt war sie auf keinen Fall. Sie mag psychopathische Tendenzen besitzen, aber in Anbetracht dessen, was sie glaubte erlebt zu haben, war dies ein wenig nachzuvollziehen. Vielleicht konnte man ihre Einstellung ändern und sie wieder heilen, sie davon überzeugen, dass alles nur Einbildung war, bloße Interpretation.

Sie fragte mich dann, ob ich wissen wollte, wie es weiter ging. Ich nickte zögerlich.

»Keine drei Minuten danach stand alles voller schwarzer Autos. Regierungswagen. Schwarz gekleidete Männer mit Sonnenbrillen und ‚Mann im Ohr‘ kamen herausgesprungen. Dann ein LKW, anscheinend mit einer neuen Antenne. Nach weiteren fünf Minuten befand sich eine neue Antenne oben auf dem Dach und zwei Wachen dazu. Wir verloren das klare Denken schlagartig, als die neue Antenne installiert war. Es sah schon witzig aus, wie zwei Männer etwas bewachten, das nicht da war. Sie standen wie Leibwächter auf dem Dach und blickten ernst. Die sind zwar nicht die klügsten, aber sehr effektiv. Wir alle empfangen ihren Mist. Gucken Sie sich doch an, was Sie die ganze Zeit denken. Immer das Gleiche, wenn man es genau nimmt. Immer das Gleiche. Hin und her. Wir saßen nur in einem Gebüsch und haben zugesehen. Mein ganzes Leben zerbrach in diesem Moment. Es war ja alles induziert gewesen. Mehr nicht. Mein ganzes Leben war vielleicht ausschließlich nur das Produkt eines Regierungssenders gewesen.«

Sie summte nun ein Lied und wiegte dabei ihren Körper vor und zurück.

Ich konnte ihr einfach nicht glauben. Es war zu reißerisch. Es war wie in George Orwells 1984. Ein Science-Fiction. Genau! Unsere Technologie war doch noch gar nicht so weit. Gedankensender! Wo kämen wir dahin?

»Ich weiß, Sie zweifeln jetzt. Sie versuchen zu leugnen. Das ist ganz normal. Ich habe diese Phase ebenfalls durchgemacht. Ich habe schon meinen Freund deswegen verloren. Er hat das alles nicht ertragen können und sich einfach umgebracht. Ich habe sogar jetzt noch fremde Erinnerungen in mir. Doch das einzige, was ich jetzt noch weiß, ist, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Also ist es doch jetzt egal, oder? Vielleicht verstehen Sie jetzt endlich, warum die so einen Aufstand um mich machen, und warum Sie in dieser ganzen Sache nicht mehr mitzureden haben.«

Ich bat sie um etwas Zeit, damit ich Gelegenheit hatte, über alles nachzudenken. Aus diesem Grund erhob ich mich und verließ den Raum. Dabei versicherte ich ihr, dass ich nicht zulassen würde, dass man sie umbringt, selbst wenn nur ein wenig von dieser seltsamen Geschichte zutreffen sollte.

Auf dem Flur traf ich Bernard. Er schien auf etwas zu warten.

»Was gibt’s? Lässt Du die Frau einfach so allein?«, fragte er mich sofort.

»Ja, sie benötigt ein wenig Ruhe. Außerdem hat sie gesagt, dass ihr sie geschlagen hättet. Stimmt das?«

»Das ist völliger Unsinn. Diese Frau ist eine Meisterin im Manipulieren der Psyche. Sie ist verblüffend, oder?«

Ich glaube, es war dieser Moment, dass ich mich zu entscheiden hatte, was im Weiteren geschieht. Glaubte ich ihr, musste ich ihr helfen, und wenn ich ihr nicht glaubte, musste ich sie Bernard mit dem Kommentar übergeben, dass sie eingewiesen werden sollte.

»Ich schick sie dir gleich raus, okay?«

»Das ist gut. So mögen wir dich«, entgegnete er.

Er ging fort, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich ging zurück ins Büro. Sie war mittlerweile aufgestanden und lief nervös im Raum auf und ab. Dann drehte sie sich zu mir, und nachdem ich die Tür geschlossen hatte, wollte sie Weiteres über ihr Schicksal wissen.

»Und? Was wird mit mir geschehen?«

»Wir werden fliehen. Ich werde mit Ihnen einen Freund aufsuchen, einen neuen Ausweis für Sie und mich in Auftrag geben und wenn das gelaufen ist, trennen sich unsere Wege und jeder fängt ein neues Leben an.«

Sie blickte mich lange an. Dann nickte sie entschlossen und fragte, wann es losgehen würde. Wir verließen das Büro durch das Fenster.

Seit diesem Zeitpunkt arbeite ich nicht mehr für dieses Büro und lebe nun mit einem gefälschten Ausweis in einer anderen Stadt. Was aus Mademoiselle Germaine geworden ist, weiß ich nicht. Ich hoffe, sie hat sich nicht wieder erwischen lassen. Ich hätte einfach nicht nicken sollen.

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