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Emily die Traumwandlerin – Teil 1

Eine Kurzgeschichte Fantasy von Jonathan Dilas in mehreren Teilen

Emily die Traumwandlerin

Teil 1

Eine Fantasy Geschichte von Jonathan Dilas in mehreren Teilen


Er stand am Fenster und blickte auf die Straße. Sein Hut war tief ins Gesicht gezogen.
„Weißt Du“, begann er seinen Satz, „ich sehe in diesem Moment 9 Autos und 7 Häuser, aber keinen einzigen, verdammten, scheiß Troll!“

Emilys Augen fixierten schon lange keinen Punkt mehr. Sie suchte nach einem Ausweg, jetzt, nachdem ihre Finte mit den Trollen an der Rückseite des Hauses nicht funktioniert hatte.
Was wollte dieser Mann nur von ihr? Und wie war er überhaupt in ihr Haus gekommen, ohne bemerkt zu werden?

Der Mann wandte sich vom Fenster ab und schaute direkt in Emilys Augen.

„Ich bin Eric. Du musst mir helfen!“

Emily war völlig perplex, denn sie hatte die Situation ganz anders eingeschätzt. Sie dachte, der Mann sei gekommen, um sie zu entführen oder um ihr weh zu tun, aber nun bat er sie um Hilfe?

„Sie… äh, du siehst nicht so aus, als bräuchtest du Hilfe…“, sprach Emily laut ihren Gedanken aus.

„Ich habe wenig Zeit, dir alles zu erklären! Ich mache es kurz: Die Königin hat meine Tochter entführt. Nur du kannst mir helfen, sie zu befreien.“

„Wie sollte ich das anstellen? Ich habe keine Waffen im Haus und meinen Panzer haben sie mir weggenommen!“, scherzte sie.

Eric setzte sich auf die Fensterbank und nahm seinen Hut ab. Nun konnte sie ihn ein wenig besser erkennen. Er hatte dunkles Haar, hellblaue Augen und einen Dreitagebart. Eigentlich sah er aus wie einer dieser Abenteurer, die man in Kinofilmen bewundern konnte. Sein Alter war schwer ein zuschätzen, aber er war wesentlich älter als sie.

„…und überhaupt: Was für eine Königin? Aus England?“

„Nein“, antwortete er, „diese Königin existiert nicht in eurer Welt, sondern in der Welt, aus der ich komme. Diese Königin hat meine Tochter entführt und hat sie an einen Ort gebracht, den nur sie allein kennt!“

Emily rümpfte ihre Nase. Was konnte sie gegen eine andere Welt anrichten und dazu noch gegen eine Königin, die diese Welt sogar regierte?

„Was kann ich schon tun?“, sagte sie und schaute Eric argwöhnisch an.

„Ganz einfach! Du bist eine Traumwandlerin. Du wirst…“

„Moment mal! Eine Traumwandlerin? Was soll das denn sein?“, unterbrach sie ihn.

„Das ist ein Wesen, das in der Lage ist, in die Träume anderer Menschen einzudringen. Du wirst also deine Fähigkeit benutzen, um in die Träume der Königin zu gelangen. Dann spionierst du den Ort aus, an dem sie meine Tochter gefangen hält und teilst es mir mit. Als Belohnung erhältst du dann 100 Goldmünzen. Die sind in eurer Welt bestimmt viel wert.“

„Und ich bin so eine Traumwandlerin? Das kann nicht sein! Ich kann mich doch noch nicht einmal vernünftig an meine Träume erinnern und dann soll ich in der Lage sein, in die Köpfe anderer Leute einzudringen? Nein, nein, das ist mir zu blöd!“
Nun schaute der Mann traurig zu Boden: „Du warst meine letzte Rettung, meine Tochter zu befreien.“

Für einen Moment spürte Emily Mitleid, als er so traurig zu Boden schaute. Sprach denn Eric die Wahrheit? War er wirklich auf der Suche nach seiner entführten Tochter? Konnte sie tatsächlich in die Träume anderer Menschen oder gar einer Königin eindringen und wusste nur nichts von ihrer Fähigkeit?

„Woher weißt du denn, dass ich das kann – also in die Träume anderer Leute eindringen?“

„Ich habe unser Orakel befragt. Es hat mir den Weg zu dir gezeigt. Woher sollte ich sonst von dir wissen?“

„Was hat dieses Orakelteil denn erzählt?“, wollte Emily wissen.

„Es sagte: Suche nach Emily! Die Trolle haben ihr einst das Gedächtnis gestohlen. Sie hat die besondere Fähigkeit des Traumwandelns.“

Gespannt lauschte Emily Erics Worten, doch irgendwie kam sie sich ein wenig auf den Arm genommen vor. Seine Worte waren so lieblos daher gesagt, als er von dem Orakel sprach.

„Bring mich zu diesem Orakel! Das will ich mir selbst anhören!“

„Es tut mir leid, das Orakel existiert nicht mehr. Die Königin hat es vernichten lassen…“, sagte Eric.

„Na toll!“

„Du glaubst mir nicht…“

„Tut mir leid, dass mir das nicht jeden Tag passiert, dass ein Fremder in mein Zimmer spaziert und mir von einer anderen Welt und von seltsamen Fähigkeiten erzählt!“, sagte Emily bestimmt. Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „Und das Orakel hat wirklich gesagt, dass die Trolle mir das Gedächtnis gestohlen haben? Ich meine, ich stelle mir oft Trolle vor. In meinen Vorstellungen sehen sie immer anders aus, aber ich weiß irgendwie immer, dass es Trolle sind. Aber du sagst nun, dass es sie wirklich gibt. Wie kann ich mir sicher sein, dass du mich nicht auf den Arm nehmen willst?“

Eric wurde allmählich ungeduldig und versuchte mit aller Kraft, es Emily nicht zu zeigen. Wenn er doch bloß gewusst hätte, dass dieses Mädchen klug und vorsichtig ist, dann hätte er sich besser vorbereitet.
„Wie kann ich wohl ihr Vertrauen erlangen?“, überlegte sich Eric. Doch da er wusste, dass wenig Zeit blieb, fuhr er einfach mit dem Gespräch fort: „Dass dich die Trolle in deinen Gedanken verfolgen, war voraussehbar, denn solch ein Gedächtnisverlust hat meistens irgendwelche Nebenwirkungen. Sind sie dir denn schon oft gedanklich begegnet?“

„Ähm… ja, schon eigentlich, aber immer nur wenn ich allein war. Ich sah sie in Bäumen sitzen oder die Wolken nahmen ihre Formen an und…“ während sie sich richtig warm redete, wurde sie von Eric unterbrochen:

„Emily, wir können auf dem Weg reden. Wenn wir noch länger warten, dann kommen die Trolle und werden auf deine Eltern und uns losgehen! Und jetzt schnapp dir einen Pullover und komm mit! Wir haben weniger Zeit, als du denkst. Ich verspreche, dir wird nichts passieren!“

Tatsächlich hatte er Emily überzeugen können, denn sie ging zu ihrem Kleiderschrank und fing an, zwei, drei Sachen herauszukramen.

Eric setzte seinen Hut wieder auf und zog ihn tief in die Stirn. Anschließend öffnete er das Fenster und gab Emily ein Zeichen, dass sie zu ihm kommen soll. Plötzlich verstand sie, was er vorhatte und wurde nervös.

„Können wir nicht lieber die Tür nehmen?“, fragte sie fast ein wenig ängstlich.

„Bist du verrückt? Das wäre zu gefährlich.“

„Gefährlich? Wenn ich aus dem zweiten Stock springe, ist das nicht gefährlich?“

„Wir springen nicht, wir nehmen das Seil, mit dem ich zu dir nach oben geklettert bin. Vor der Tür lauern mit Sciherheit die verdammten Trolle, also müssen wir schnell handeln. Und jetzt los – und stell bloß keine Fragen mehr!“

Emily kletterte auf Erics Befehl hin nach unten und wartete auf ihn. Sie schaute neidisch zu, da er den Abstieg dreimal so flink geschafft hatte als sie. Dann nahm er ihre Hand und rannte einfach los.

Emily hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit gerannt zu sein, als Eric inmitten eines dunklen Waldes plötzlich ihre Hand losließ und stehen blieb. Hilflos griff Emily wieder nach seiner Hand und traute sich endlich, die Frage zu stellen, die ihr seit Verlassen des Hauses durch den Kopf ging:

„Was hast du jetzt vor?“. Und bevor er etwas antworten konnte flüsterte sie ängstlich: „Ich habe Angst…“.

*

Im Wald war es mittlerweile sehr dunkel geworden. Nur noch der Vollmond ließ ein wenig Licht durch die Bäume dringen. Eric hatte sie zu einer Lichtung geführt und war einfach stehen geblieben. Was hatte er jetzt vor?

Unkontrolliert fing Emily plötzlich zu zittern an. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie sich gerade aus dem Haus ihrer Eltern geschlichen hatte und einem völlig unbekannten Mann gefolgt war. Vielleicht hatte er ganz andere Dinge mit ihr vor als das, was er ihr offenbart hatte. Gab es eventuell gar keine Tochter oder steckte er mit den Trollen unter einer Decke und sie hatten diesen Mann engagiert, um sie endlich in eine verhängnisvolle Falle zu locken? Es könnte doch sein, dass die Trolle einen Weg gefunden hatten, sich zu verwandeln…

Emily hatte einmal in einem Buch gelesen, dass Trolle sich miteinander verschmelzen und dann eine beliebige Gestalt formen konnten. Diese Gestalt war dann durchaus mit einem Menschen zu verwechseln.
Jetzt, während sie Eric in der Dunkelheit misstrauisch beobachtete, fiel ihr im Gegenlicht auf, dass seine Augen nicht mehr blau waren. Sie waren nun dunkelbraun und diese Feststellung ließ sie innerlich noch mehr zittern.

„Vielleicht…“, stammelte sie unsicher, „sollte ich doch wieder nach Hause gehen.“

„Hab keine Angst, Emily. Dir wird nichts geschehen. Du kannst jetzt auch nicht mehr zurück.“

„Warum?“, fragte sie.

„Weil die Trolle aufmerksam geworden sind und dich suchen werden. Wenn du zu Hause bleibst, bringst du deine Familie in Gefahr. Sie würden das Haus stürmen und deine Familie vernichten.“

„Und was, bitte schön, sollte sie davon abbringen, das jetzt nicht mehr zu tun?“, fragte sie ungläubig.

„Ganz einfach: Die Trolle spüren deine Anwesenheit in der Welt, in der du dich gerade aufhältst. Wenn wir jetzt diese Welt verlassen und in meine gehen, werden sie dich hier nicht mehr spüren können und uns augenblicklich dorthin folgen. Damit wären deine Eltern sicher“, erklärte Eric.

„Ich hasse mich jetzt schon für das, was ich hier tue!“, entgegnete Emily.

„Sodann lass uns von hier verschwinden!“, meinte Eric und wandte sich Eric der Lichtung zu und breitete seine Arme zum Himmel aus: „Ka tandra, e perico ka mandra. Tor!“

Das letzte Wort rief er laut hinaus und in dem Augenblick entstand ein Loch mitten in der Luft, keine zwei Meter von ihnen entfernt. Emily sprang erschrocken einige Meter zurück und konnte nicht glauben, was sie hier sah! Dieses Tor leuchtete in einem hellen Weiß und strahlte über die ganze Lichtung. Für einen kurzen Augenblick hätte man glauben können, hier wäre soeben ein UFO gelandet und es wurde gerade die Landeklappe ausgefahren. Doch langsam dämmerte ihr Erics Vorhaben.

„Nein… nein…“, begann Emily zögerlich ihren Satz, „das kannst du dir abschminken! Ich… ich geh da nicht rein!“

„Emily, wir müssen! Denk an deine Eltern! Auch wenn es nicht wichtig ist, was aus ihnen wird, denn sie sind nicht deine wahren Eltern“, offenbarte Eric, wobei er den letzten Satz eher vor sich hingemurmelt hatte und Emily ihn somit kaum hätte verstehen können.

Dann ergriff er Emilys Hand und zog sie in Richtung des Dimensionstores!

Es war ein schreckliches Gefühl, das nun über Emily kam. Für einen Moment glaubte sie, von diesem Licht verbrannt zu werden und in diesem tausend Tode sterben zu müssen. Alles in ihr kam für einen Augenblick zum Stehen. Sie war wie eingefroren. Ihr Körper, ihre Gedanken, ihr Geist, einfach alles gefror für einen winzigen Augenblick, als wollte eine magische Kraft sie in einen Kristall verzaubern, doch im nächsten Moment fühlte sie sich schon wieder normal und stand unvermittelt auf einer riesigen Blumenwiese.

„Wir sind da!“, meinte Eric trocken und ging einfach los.

„Moment mal! Du magst das hier vielleicht jeden Tag zwanzig Mal machen, aber für mich ist es das erste Mal! Lass mich doch erst einmal hier ankommen! Wo sind wir hier überhaupt und wo willst du mit mir hin?“

Nun sprudelten die Fragen nur noch so aus Emily heraus. Sie musste sich ihrer eigenen Angst stellen und jetzt, wo sie es geschafft hatte, sich selbst zu überwinden, fühlte sie sich für einen Augenblick stärker. Sie spürte förmlich, wie das Adrenalin ihren Körper flutete.

„Los, sag schon! Los!“

Eric blieb stehen, als wäre diese Aufforderung für ihn wie zu einem Befehl geworden.

„Wir werden zum verbotenen Ort der Undinen gehen.“

„Was?“, fragte Emily verstört.

Sie blickte sich um. Wald, Wiese, Hügel, alles sah so aus wie in ihrer Welt. Hätte sie nicht dieses leuchtende Tor gesehen und wäre sie nicht hindurchgegangen, wäre ihr vermutlich gar nicht aufgefallen, dass sie sich nun in einer anderen Welt befand.

„Es gibt hier einen Ort, an dem die adligen Naturgeister leben. Sie wollen nichts mit Menschen zu tun haben. Die Menschen haben sie enttäuscht.“

„Was haben wir denn getan?“

„Was ihr getan habt?“, rief er plötzlich laut aus. „Ihr habt früher mit uns in Harmonie zusammen gearbeitet. Wir haben Hand in Hand diesen wunderschönen Planeten aufgebaut und was ist nun? Ihr habt euch von uns abgewandt, zerstört die Natur und beutet sie aus. Ihr seid zu Raubtieren geworden! Kein Wunder, dass euch die Trolle jagen, wenn sie die Möglichkeit finden und ebenso ist es kein Wunder, dass die kraftvollen Sylphen und Undinen nichts mit euch zu tun haben wollen. Ganz zu schweigen von den weisen Baumgeistern, die ihr, anstelle von ihnen zu lernen, abholzt und verbrennt.“

Emily standen plötzlich die Tränenin den Augen. Vielleicht waren die Trolle gar nicht die Bösen in diesem Spiel, sondern die Menschen? Betrübt schaute sie zu Boden und dachte über Erics Worte nach.

„Ich bin aber nicht verantwortlich für die Industriebosse, die diese Welt ausbeuten und für die korrupten Politiker, die ihnen hörig sind oder für die Wissenschaftler, die von Konzernen bestochen werden.“

„Ich weiß, ihr habt einen freien Willen. Und weil ihr ihn habt, war es überhaupt irgendwie möglich, dass ihr euch abgekehrt habt.“

„Wann war denn das? Wann hat das alles angefangen?“, wollte Emily nun wissen.

„Eure großen Autoren und Dichter aus dem 19. Jahrhundert standen teilweise noch gedanklich mit den Naturgeistern in Kontakt, aber das waren schon die letzten. Christian Andersen und E.T.A. Hoffmann waren zum Beispiel jene, die noch eine mentale Verbindung besaßen, aber auch sie sind nach einiger Zeit stumpf geworden. Mit den Jahrzehnten habt ihr euch immer mehr abgewandt. Jetzt ist es so, dass ihr nur noch in einem Märchen von uns hört und das ist alles. Glauben wollt ihr nicht mehr an uns. Euer Verstand hat die Macht in eurer Welt übernommen und dieser belügt euch unaufhörlich, dass wir nur Märchen sind.“

„Und was ist passiert?“

„Nichts ist passiert! Ihr Menschen habt nun eine verschissene Amnesie! Ihr seid ahnungslose Tölpel, die, Untoten gleich, umherirren und nichts mehr mitbekommen. Gäbe es nicht einige unter euch, die noch aktiven Kontakt zu uns haben, dann hätten sie euch schon längst allesamt getötet.“

„Wie kann ein Naturgeist, den wir nicht wahrnehmen können, uns töten?“, wollte Emily wissen.

„Das ist ganz einfach. Jeder Mensch hat einen Naturgeist aus der Welt der Naturgeister in sich. Er begleitet euch von Leben zu Leben, formt euren Körper und plant eure Matrix. Er könnte euch mit einem Fingerschnippen vernichten. Wenn irgendwann einmal die Naturgeister entscheiden sollten, nicht mehr mit euch zusammen zu arbeiten, dann seid ihr am Arsch!“

Mittlerweile waren Emily und Eric schon ein ganzes Stück gelaufen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Ereignisse der letzten Stunden waren zu viel für sie gewesen. Erics Worte hatten sie zudem auch noch hart getroffen. So schien ihr diese Welt doch stets gut gewesen zu sein mit Menschen, denen sie vertrauen konnte. Doch nun erkannte sie die andere Seite der Medaille. Ihre Alltagswelt hatte auch eine unangenehme Seite voller Habgier, Egoismus und Ignoranz.

In der nächsten Stunde wechselten die beiden kein Wort mehr. Emily wollte keine weiteren Vorwürfe mehr hören und Eric spürte, dass er ihr in den letzten Stunden zu viel zugemutet hatte.

Irgendwann unterbrach Eric die Stille: „Wir sind da.“

In einigen hundert Metern Entfernung nahm Emily eine alte Hütte wahr. Niemand hätte gedacht, dass dies der verbotene Ort der Undinen sein könnte.

„Das soll der verbotene Ort sein? Das ist doch nur eine alte Hütte!“

Eric schüttelte den Kopf und antwortete gar nicht auf ihre Frage.

Als sie vor der Hütte standen, öffnete Eric die Tür und Emily glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Dahinter befand sich eine gigantische Höhle! Irritiert schaute sie noch einmal auf die Hütte, die sicherlich nicht größer als 60 m³ war, doch hinter der Tür befand sich eine riesige Höhle mit einem See!
Geschockt lief Emily einmal um das ganze Haus. Sie konnte es einfach nicht glauben, was sie dort sah! Eric schaute laut lachend dabei zu und rief ihr hinterher:

„Ich weiß gar nicht, wo ich bei dir beginnen soll“, meinte Eric. „Es gibt so Vieles, das man dir beibringen könnte, aber dafür würde dein kleines Leben nicht ausreichen.“

Ehrfürchtig betrat Emily die Höhle. Sie war in ein tiefblaues Licht getaucht und an vereinzelten Stellen vernahm sie tropfendes Wasser, das von der Decke auf den See fiel. Das Geräusch des tropfenden Wasser wirkte wie ein hypnotischer Singsang in ihren Ohren, der ihre Gedanken beruhigte.

Noch immer konnte sie nicht fassen, wieso die Hütte um ein Vielfaches kleiner war als das innere. Wie konnte es nur möglich sein, dass eine gigantische Höhle und ein See in diese unscheinbare, kleine Hütte passten? Eric spürte Emilys Gedanken, aber er ging nicht mehr auf sie ein. Die Undinen aufzusuchen und sie nach dem weiteren Vorgehen zu befragen, erschien ihm nun wichtiger.

„Dort in diesem See leben die Undinen. Es sind feenartige, weibliche Wesen, die im Wasser umherschwimmen. Wenn sie dich akzeptieren, dann kommen sie an die Oberfläche und lauschen deinen Worten. Wenn wir keine von ihnen anlocken können, dann haben wir keinen Anhaltspunkt, wo wir beginnen können“, erklärte Eric.

„Was sollen wir sie denn fragen? Ich dachte, ich soll in die Träume der Königin eindringen und dort den Ort ausfindig machen, wo sie deine Tochter gefangen hält.“

„Das ist richtig, Emily, aber wir müssen zuerst von den Undinen erfahren, von welchem Ort aus dieser Einsatz am besten funktionieren wird. In unserer Welt muss man alles Wichtige von einem Ort aus machen, der eine besondere Magie besitzt und einem die notwendige Kraft verleiht. Wenn wir den falschen Ort auswählen, könnten die Trolle kommen und dich hindern oder verletzen. Es könnte sein, dass die Königin Verdacht schöpft und Wesen losschickt, um deinen Körper zu stehlen, während du nicht in ihm bist.“

„Brrr…“, meinte Emily, „das wäre wirklich blöd!“

Eric nickte ernst und blickte nun in den See. Er schien sehr tief zu sein. Sein kaltes, blaues Wasser war sehr still. Nur manchmal fiel wieder ein Tropfen von der Decke auf seinem langen Weg ins Wasser. Doch nichts geschah. Keine der wunderschönen Wasserfrauen zeigte sich.

„Hab ich was falsch gemacht?“, fragte Emily leise.

„Ja, du bist ein Mensch. Das reicht für gewöhnlich schon aus!“, lästerte er.

„Ich könnte auch vor der Hütte auf dich warten“, überlegte Emily. „Du bist ihnen doch vertraut, nicht wahr?“

„Emily, für wie dumm hältst du die Undinen? Nur, weil sie andere Wesen als ihr Menschen seid, heißt das nicht, dass sie dich nicht hören können. Im Gegenteil, sie können sogar deine Anwesenheit spüren“, erklärte Eric, der immer unsicherer wurde, da sein Plan ständig irgendwelchen Verzögerungen unterlag.

Während Emily in Gedanken versunken nach einer Lösung für das Problem suchte, da sie ihm beweisen wollte, dass sie nicht dumm sondern nur unwissend ist, befand sich Eric wieder auf dem Weg zum Ausgang der Höhle. Dabei dachte er ebenfalls angestrengt nach und murmelte: „Und ich habe wirklich geglaubt, dass die Undinen aufgrund unseres Vorhabens zu uns halten würden…“

Emily wollte Eric gerade bedrückt nach draußen folgen, als sie hinter sich Stimmen vernahm. Sie waren ganz hoch, hell und sehr leise.

„Wirst du jetzt komplett bescheuert??“, fragte sie sich selbst und lief weiter, doch schon erblickte sie Eric wieder neben sich. Wie war er wohl so schnell wieder in die Höhle gekommen, ohne dass sie es bemerkt hatte?

„Sie haben wohl nur Zeit gebraucht“, flüsterte er. Seine kurz aufkeimende Ungeduld schien ihm ein wenig peinlich zu sein.

Als sie sich umdrehte fügte er hinzu: „Du musst jetzt ganz leise und vorsichtig sein. Wenn wir sie verscheuchen, ist nicht mehr mit ihrer Hilfe zu rechnen! Lass mich einfach nur reden“.

Sie nickte, denn sie hatte nicht vorgehabt, etwas zu sagen. Wie in Trance blickte sie nun auf den See. Das Wasser schien nun noch blauer zu sein und die ganze Höhle glänzte wie verzaubert in diesem wunderschönen Licht, dessen Quelle sie nicht bestimmen konnte.

Langsam schritt sie wieder bis zum Rand des Sees und blickte auf die ruhige Oberfläche. Plötzlich sah Emily, wem diese verführerischen Stimmen gehörten: Wundervolle Wesen schwammen durch das magische Gewässer. Ihre Haut war blass und ihr Haar bewegte sich, als würde das Wasser lebendig werden und mit ihm spielen. Emily war sich sicher, dass sie so etwas Schönes noch niemals zuvor gesehen hatte.

Eine Stimme hob sich auf einmal hervor: „Seid gegrüßt, Fremde! Was wünscht ihr? Teilt es uns mit.“

Und eine zweite schloss sich an: „Aus welchem Anlass dringst du bei uns ein… Ein Menschenkind an diesen Ort?“

Eric erklärte ihnen in ähnlicher Weise, wie er auch Emily von seinem Vorhaben berichtet hatte und machte ihnen dabei bewusst, dass die beiden ohne die Hilfe der Undinen keine Chance besäßen, den magischen Ort zu finden. Doch nachdem Eric endete, kam keine Antwort an ihn zurück. Stille füllte nun die gesamte Höhle aus und sie wirkte nicht mehr freundlich und einladend, sondern eher unheimlich.

Die Stimmen der Undinen wirkten dermaßen hell, dass sie für einen Moment daran dachte, sich die Ohren zuzuhalten.

Eric schienen die Stimmen nicht auffällig zu bedrängen, aber vielleicht konnte er damit anders umgehen.

„Diese Stimmen… sie dröhnen unerträglich in meinen Ohren und in meinem Kopf! Eric, hilf mir!“

„Warte noch… warte nur noch wenige Sekunden… Sie erzählen uns gleich von dem Ort.“

Emily befürchtete schon das Schlimmste, als plötzlich einige Sekunden später eine der Undinen aus dem Wasser auftauchte. Ihr nackter Oberkörper streckte sich Emily entgegen:

„Ich erkenne deine Absicht! Du willst den Weg zum magischen Ort wissen, an dem man in die Träume Fremder eindringen kann.“

„Ja, das will ich!“, entgegnete Emily und wagte es kaum, sich zu bewegen.

„Ich werde dir den Weg verraten! Geht in Richtung Norden. Dort werdet ihr in eine Schlucht kommen. An diesem Ort gibt es einen Tempel der Alten. Wenn ihr dort angekommen seid, werdet ihr die Zeichen deuten müssen, um den magischen Ort zu finden. Es gibt an diesem Ort einen Steinkreis. Wer sich dort ins Zentrum stellt, hat verstärkte Kraft, in den Traum eines Jeden einzudringen. Auch bei denen, die durch Magie davor geschützt sind.“

Kaum hatte die bezaubernde Undine ihre Worte gesprochen, tauchte sie ohne Worte des Abschieds wieder unter die Oberfläche.

„Du hast es tatsächlich geschafft…!“, triumphierte Eric.

Fassungslos wandte sich Eric an Emily, die nicht verstehen konnte, welche Bedeutung dieser Moment mit sich brachte: „Sie vertrauen dir, weißt du was das bedeutet?“

„Nein.“

„An diesem magischen Ort können wir den Schutz der Hexe umgehen, die die Königin davor bewahrt, dass man in ihre Träume eindringt. Und die Undinen haben dir den Weg zu diesem Ort verraten!“, entglitt es Eric, der voller Begeisterung war.

„Welche Hexe?“, hakte Emily sofort nach.

„Das ist jetzt unwichtig. Ich werde dir später davon erzählen. Wir müssen weiter!“

*

Eric fing gerade an, Emily zu erklären, dass sie nun den richtigen Pfad nach Norden finden mussten und dass sie keine Angst zu haben brauchte, als die beiden ein Geräusch von hinten vernahmen. Das Mädchen warf einen Blick auf zurück und rief irritiert aus: „Was war das?“, woraufhin Eric ihre Hand nahm und direkt mit ihr losrannte.

Emily konnte für wenige Momente ihren Augen nicht trauen, da sie während des Rennens das Gefühl besaß, sie könne durch ihn hindurch sehen.

Endlich hielt er inmitten von Büschen neben einem hübschen kleinen Fluss an.

„Entschuldige, dass ich dich einfach mitgezerrt habe, aber wir werden verfolgt“, informierte er Emily. „Hier sind wir vorerst sicher.“

„Wer verfolgt uns denn?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Eric. „Es ist etwas, das sich zurückhält und uns beobachtet… Vielleicht ein Spion.“

Emily fühlte sich nun wirklich beobachtet. Doch ihre Ohren konnten nichts vernehmen. Dann schaute sie wieder Eric an. Sein Körper sah nun wieder normal aus, aber Emily war sich sicher, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Sie erinnerte sich an seine wechselnden Augenfarben und daran, dass er in der Höhle plötzlich neben ihr stand, obwohl er die Höhle schon fast wieder verlassen hatte. Somit hatte er sich auf eine unglaubliche Weise sehr schnell bewegt.

Endlich traute sie sich ihre Frage zu stellen: „Was bist du?“

Eric schaute sie gar nicht an. Wie sie es gewohnt war, verbarg er seine Augen unter dem Schatten seiner Hutkrempe.

„Das willst du gar nicht wissen…“, flüsterte er nahezu bedrohlich.

Emily hatte tatsächlich Angst, zu erfahren, wer oder was er tatsächlich war. Vielleicht würde er ihr Dinge sagen, die sie gar nicht hören wollte oder sie zutiefst verängstigen könnten… Doch sie musste irgendwie prüfen, ob sie ihm vertrauen konnte. Wenn sie an den Falschen geraten war, dann würde sie blindlings in eine Falle laufen und wahrscheinlich getötet oder zu irgendwelchen unmoralischen Taten missbraucht werden. In diesem Fall müsste sie zumindest schon vorsichtshalber einen Fluchtplan schmieden, um Eric im Notfall loszuwerden. Sollte sich jedoch herausstellen, dass sie Eric vertrauen konnte, dann würde sie nicht mehr so viel Angst besitzen und könnte ihre Aufgabe, Erics Tochter zu retten, sicherlich besser bewerkstelligen.

„Doch! Ich will es wissen!“, rief Emily. „Und wenn es das letzte ist, was ich in meinem Leben wissen will!“

Eric hielt für einen Moment inne und im nächsten Augenblick vollführte er eine dermaßen schnelle Bewegung, dass sie vor Schreck auf der Stelle stehen blieb.

Im Bruchteil einer Sekunde war es nämlich Eric gelungen, stehen zu bleiben, sich ihr zuzuwenden, einige Schritte nach vorn zu machen und ihr an den Hals zu fassen. Seine Hutkrempe lüftete den Schatten und sie konnte in seine funkelnden Augen blicken, wie sie von einer eiskalten, stahlblauen Farbe zu wunderschönem Bernstein wechselte und wieder zurück. Irgendwie schien Emily wahrzunehmen, dass sein ganzes Gesicht flüssiger wurde. Seine Gesichtszüge bewegten sich nahezu unkontrolliert. Mal wirkte die Nase länger, dann wieder klein und stupsig. Sein Mund wirkte einen Moment schmal und dann wieder voll.

Emily zitterte am ganzen Körper und wurde kreidebleich.

„Ich… hatte nie in meinem Leben eine solche Angst wie jetzt…“, flüsterte sie zitternd, „aber ich will wissen, wer oder was du bist.“

„Ich werde dich vielleicht töten müssen, wenn ich es dir zeige“, antwortete er.

„Das ist mir gleich. Tu mit mir was du willst… aber ich will es aus tiefstem Herzen verstehen.“

„Ich bin… ich bin nicht aus dieser und nicht aus deiner Welt.“

„Woher kommst du dann? Bist du ein Engel?“

„Verschone mich mit Engeln!“, rief er laut aus und ließ ihren Hals los. Emily fiel einfach zu Boden.

Ihr war überhaupt nicht aufgefallen, dass er sie mit seinem harten Griff ein Stück vom Boden gehoben hatte.

Ihr ganzer Körper vibrierte, als stünde sie unter Strom. Die Höhle und die Feuchtigkeit des Sees hatte mittlerweile ihre Kleidung durchdrungen und sie fror am ganzen Körper.

Eric hatte sich für einen Moment abgewandt und ihr den Rücken zugedreht. In diesem Moment sprach er weiter:

„Dein Mut zählt wie der Mut eines ganzen Heeres. In meinem Leben, das nun schon seit vielen Jahrhunderten andauert, habe ich noch keinen Menschen getroffen, der für ein solches Wissen bereit gewesen wäre.“

Dann drehte sich Eric wieder um und blickte erneut in ihr Gesicht: „Dann schau mir in die Augen! Siehe, was du wissen willst…“

Emily blickte tief in seine Augen. Sie sah, wie sie wieder funkelten und die Farben wechselten, bis alles Schwarz um sie her wurde.

Im nächsten Augenblick rasten unglaubliche Bilder an ihren Augen vorbei. Sie erblickte Eric in verschiedenen Situationen, die sie nur schwer beschreiben und verstehen konnte. In einer Szene erkannte sie, wie er ein Schwert in den Händen hielt und gegen ein Heer von dunklen Schatten kämpfte, die keine feste Konsistenz aufwiesen.

Schon wechselte die Szene zur nächsten und sie sah ihn, wie er sich mit zwei Einhörnern unterhielt, die an einem Waldrand standen und im nächsten Moment erblickte sie ihn, wie er durch einen wahnsinnigen, silbernen Tunnel reiste, gefolgt von einem dunklen Wesen auf einem knöchernen Pferd.

Das dunkle Wesen trug eine rasiermesserscharfe Sense in seinen Händen und schlug immer wieder nach Eric, der verzweifelt Abstand zu gewinnen dachte. Liebesszenen, Verwandlungen, die wahnwitzigsten Wesen und Tränen aus Blut waren die nächsten Eindrücke, die Emily nicht einordnen konnte. Dann wurde alles Schwarz vor ihren Augen und sie fiel in eine tiefe Ohnmacht.

*

Irgendwann erwachte Emily wieder und als sie ihre Augen öffnete, blickte sie in ein knisterndes und wärmendes Lagerfeuer.

„Bist du nun zufrieden?“, fragte Eric sie gleich zur Begrüßung. „Sei froh, dass du wieder zu Bewusstsein gekommen bist. Andere, die unbedingt wissen wollten, wer ich bin, sind nie wieder aus dieser tiefen Ohnmacht aufgewacht. Vielleicht sind sie sogar noch heute ohnmächtig und indes jämmerlich verhungert… ich weiß es nicht… und ich muss zugeben, es interessiert mich auch nicht!“

Emily setzte sich auf und rutschte ein Stückchen näher ans Feuer heran.

„Was habe ich da gesehen? Ist dir das alles begegnet?“

„Ja, das ist es.“

„Und wie kann es sein, dass du mit Einhörnern redest und dich verwandeln kannst? Woher bist du?“, hakte Emily nach.

„Ich komme aus einer anderen Welt. Ich kann mich nicht nur verwandeln, sondern ich beherrsche noch andere Fertigkeiten. Ich kann mich sehr schnell bewegen, wie du mitbekommen hast, und außerdem kann ich meine Atome und Moleküle so anordnen, dass ich jede beliebige Form annehmen kann. Wenn ich mich aber aufrege oder andere Gefühle beteiligt sind, entgleitet mir manchmal die Form.“

„Bist du so was wie ein Formwandler?“

„So was in der Art. Für mich gibt es aber keine Bezeichnung“, erklärte Eric.

„Aber es muss doch einen Begriff für dich geben!“

„Die allerersten Elfen, die auf eurem Planeten gelebt haben, die Tuatha Dé Danaan, nannten mich den Widerspenstigen.“

„Das ist aber ein komischer Name. Was hat er zu bedeuten?“

„Vielleicht kennst du die Geschichten über Kobolde und Elfen, dass sie nur schwer Nachwuchs bekommen. So tauschen sie manchmal ein Menschenkind gegen einen Wechselbalg aus. Der Wechselbalg ist kein richtiges Kind und nur ein sehr schlechter Ersatz. Er lebt nicht lange und ist ziemlich dumm und triebgesteuert. In die Rolle eines solchen Wechselbalgs sollte ich einmal schlüpfen und als mich die Kobolde in das Kinderzimmer eines Menschenkindes schleppten und austauschen wollten, kam ich mit einer unbegreiflichen Magie in Kontakt, die mein Leben auf unheimliche Weise unzerstörbar machte. Von diesem Moment an gehörte ich weder zum Reich der Menschen noch zum Reich der Naturgeister. Also versteckte ich mich und lernte, meine Kräfte, die diese unbegreifliche Magie ausgelöst hatte, zu entdecken und zu kontrollieren. Dabei entstand eine ganz besondere Magie in mir, denn ich verstarb nicht nach einiger Zeit, wie es für einen Wechselbalg üblich ist, sondern ich lebte weiter und trotzte dem Tod. Darum nannten die Elfen mich den Widerspenstigen.“

Nachdem Eric seine Erklärung zu Ende geführt hatte, konnte sich Emily viele Dinge, die sie in seinen Augen gesehen hatte, schon besser erklären.

*

Der Wind glitt über das Feld, verfing sich in Emilys Haaren und zog dann weiter in die Bäume.

„Erzähl mir mehr von diesen Kraftorten in dieser Welt“, bat sie Eric.

„Du bist wirklich ein Mensch, an dem die Magie vorübergezogen ist. Was seid ihr Menschen nur für traurige Geschöpfe. Sie haben die Schöpferkraft der Götter und haben einfach keine Ahnung!“

Eric lachte laut und sein Haar wurde plötzlich blond, dann rot, bis es sich plötzlich wieder in seine gewohnte Haarfarbe zurückverwandelte.

„Ja, mach mich nur fertig! Lach ruhig über mich und die dummen Menschen! Ich weiß es halt nicht.“

„Das stimmt. Doch bevor sich meine Moleküle gänzlich von mir verabschieden, erzähle ich dir lieber von den Kraftorten in dieser und eurer Welt.“

Während Emily und Eric dort saßen, erblickte sie in der Ferne die ersten Sonnenstrahlen. Das Feuer der Nacht hatte sie schön gewärmt und irgendwie ihrem Körper die Möglichkeit geschenkt, sich nun besser auf den Tag vorzubereiten. Sie ahnte Schlimmes, denn Eric hatte die Andeutung gemacht, dass sie bald in die Träume der Königin eindringen werde, um den Aufenthaltsort seiner Tochter auszuspionieren. Emily hatte überhaupt keine Ahnung, wie sie das schaffen sollte und in ihrer aufkommenden Verzweiflung zog sie ihre Beine an ihren Körper heran.

„Ein Kraftort“, begann Eric zu erklären, „ist ein besonderer Ort, an dem sich Energielinien kreuzen. Jede Welt besitzt eine Art Mantel, der sie umhüllt. Dieser Mantel ist wie ein gigantisches Netz aus feinen Energien. Manche Kreuzungspunkte solcher Linien sind so stark, dass sie dich mit einem Mal in eine andere Welt teleportieren können, allein schon, wenn du auf sie trittst. Andere sind wiederum so schwach, dass man sie kaum bemerkt und man sich plötzlich müde fühlt. Wir suchen allerdings einen ganz bestimmten Kraftort, einen, der dir die Macht gibt, in die Träume der Königin einzudringen – so, wie es die Undinen uns erzählt haben. Die Elfen haben mir vor langer Zeit von diesem Ort erzählt. Sie wissen um die alten Geheimnisse, weil sie viel länger als Menschen leben, doch ich wusste nie, wo er sich befindet.“

„Warum leben die Elfen länger als Menschen?“

„Sie wandeln zwischen den Welten und sind weder in der einen noch in der anderen Welt zu Hause. Sie ernähren sich nur von Früchten und Gemüse, die eine energetsiche Essenz aufweisen. Auf diese Weise nehmen sie nur völlig gesunde Nahrung auf und dies verlängert ihr Leben auf eine sehr lange Zeit. Sie leben in Wäldern oder auf großen Wiesen in Häusern, die ihr nicht sehen könnt. Trotzdem können sie eure Häuser sehen. Wenn ihr ein Haus baut, wo ein Haus von ihnen steht, dann müssen sie weichen, weil sie euch sehen können, während ihr das nicht tut.“

„Das würde mich aber ganz schön nerven, wenn jemand sein Haus in meines hineinbaut! Können die denn keine Schilder aufstellen, damit wir Bescheid wissen?“

„Das ist mal wieder typisch für euch! Immer macht ihr andere für eure Taten verantwortlich. Ihr seid es doch, die sich so blind gemacht haben! Ihr würdet die Schilder doch niemals sehen!“

„Ja, ist schon gut! Ich bin ja schon still!“, keifte Emily.

„Lass uns das Feuer löschen und weiterziehen“, sprach Eric und stand auf.

*

Einige Stunden später gelangten Emily und Eric an einen großen Hügel mit saftigen Wiesen und wunderschönen Blumen. Emily wunderte sich, weil sie diesen Hügel aus ihrer Welt kannte. Dort war er jedoch gar nicht so schön und sah ziemlich unattraktiv aus. Sie fragte Eric nach diesem auffälligen Unterschied.

„Dieser Hügel hier ist sozusagen eine Art Gerüst für den Hügel in eurer Welt. Er soll irgendwann mal so aussehen, wie du ihn hier siehst. Die Elfen und Feen haben ihn so gestaltet.“

„Er sieht wunderschön aus!“

„Richtig und hinter diesem Hügel befindet sich der Pfad, der zu dem Kraftort führt, von dem aus du in die Träume der Königin eindringen wirst, um den Aufenthaltsort meiner Tochter herauszufinden!“

„Sag das nicht so, Eric! Das verunsichert mich. Ich habe dann Angst, es zu vermasseln! Kannst du das verstehen?“

„Oh ja… und…“

Doch Eric konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Plötzlich jagten zwei seltsame Wesen aus dem naheliegenden Waldrand heraus und rannten in ihre Richtung. Ihre geifernden Mäuler groß wie die hungriger Riesenwölfe liefen ihnen sabbernd und geifernd entgegen.

Während Emily bei dem Anblick der Bestien verzweifelt ihre Augen aufriss und gerade anfangen wollte zu schreien, packte Eric sie kräftig an der Schulter und schüttelte sie:

„Wir müssen hier weg! Los, lauf!“

Sie wusste in diesem Moment sofort, dass er Recht hatte und sie eilten den Hügel hinauf. Emily war sich sicher, dass diese gierigen Monster, die sich an ihre Fährte geheftet hatten, sie umbringen würden, wenn sie nicht schnell genug war. Sie kamen immer näher und der Gipfel des Hügels schien unerreichbar. Emily fühlte sich ihrem Ende noch nie zuvor so nahe. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt, da sie immer mehr spürte, wie sehr Eric ihre Hilfe doch brauchte und wie hoffnungslos verloren seine Tochter ohne sie ist.

Endlich hatte sie mehr Bedeutung und ihre Taten erschienen ihr viel sinnvoller als die der Mädchen aus ihrer Stufe, die Partygirls, mit denen sie sich nie wirklich verstehen oder identifizieren konnte. Und jetzt wusste Emily, dass sie nicht alles ihrem Begleiter überlassen konnte. Blitzschnell nahm sie nun seine Hand. Entschlossen und zielstrebig, schloss sie ihre Augenlider und rannte so schnell sie nur konnte. Sie liefen über den Hügel und die Bestien liefen hechelnd hinter ihnen her.

„Ich werde dich nun an meine Geschwindigkeit anpassen, damit wir schneller als diese Monster sind!“, rief er und umfasste ihre Taille. Im selben Augenblick nahmen die beiden unglaublich an Geschwindigkeit zu. Eric schob Emily förmlich vor sich her und sie konnten den Abstand zwischen ihnen und den wolfähnlichen Wesen vergrößern.

Nachdem sie sich in den Wald geschlagen hatten, liefen sie eine Weile durch einen Bach und konnten auf diese Weise die Verfolger abschütteln. Sie waren nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Spur zu verfolgen. In der Ferne hörten sie noch das Jaulen dieser unheimlichen Geschöpfe und zehn Minuten später verebbte ihr Geheul in der Ferne. Daraufhin hielt Eric an. Schnaufend warfen sie sich auf den Waldboden und gönnten sich eine Pause.

Eric war stolz auf Emily gewesen. Sie war tatsächlich imstande gewesen, sich zusammen zu nehmen, zur Tat zu schreiten und ihm zu vertrauen. Ohne ihre Entschlossenheit und Vertrauen hätten sie keine Chance besessen, den Bestien zu entkommen; das war ihm sehr wohl bewusst.

„Du bist eine besondere, junge Frau! In der falschen Welt lebst du, du gehörst hierher.“ Bei diesen Worten streifte Eric ihr sanft durch das Haar, das wie verzaubert in der Sonne schimmerte. Emily war ziemlich schnell erschöpft auf die Wiese gefallen, weshalb Eric ihr ein wenig Schlaf gönnen wollte.

Jetzt konnte er seinen Blick nicht von ihr wenden. Diese Augen, diese Haut, diese unschuldige Ausstrahlung. So lag sie dort und fiel in einen tiefen Schlaf. Wie friedlich sie doch anzuschauen war. Er ließ sie eine Weile schlafen und lauschte dem fernen Geheul der Wesen, in der Hoffnung, dass es niemals lauter werden würde. Doch die Zeit drängte, das wusste Eric nur zu gut. Ein sanfter Kuss auf ihre zarte Wange. Dann berührte er sie liebevoll und bekam ein müdes Zwinkern zur Antwort.

„Warum bist du wirklich zu mir gekommen?“, fragte sie müde.

„Du bist die Einzige, deren Energie mit der meinen übereinstimmt. Nur gemeinsam können wir es schaffen, dich die Traumwelt der Königin betreten zu lassen und ihr das Geheimnis zu entlocken. Sie verbirgt dieses Wissen tief in ihrem Inneren. Doch ich wählte dich auch, weil uns das Schicksal zusammengebunden hat. Es gibt weder für dich noch für mich ein Entkommen, von dem Zeitpunkt an, als wir uns das erste Mal begegneten.“

„Wie meinst du das?“

Eric holte tief Luft: „Unsere Seelen sind miteinander verbunden. Wenn einer von uns versuchen sollte, den anderen allein zu lassen, werden unsere Körper dies nicht zulassen. Sie würden sterben. Vielleicht in einer Stunde, in einer Woche, in einem Monat oder in einem Jahr. Das bleibt uns ungewiss.“

Emily glaubte Eric nicht wirklich, was er von sich gab. Sie hatte noch niemals von einer solchen magischen Begebenheit gehört. Doch Eric schien ihre Gedanken zu lesen.

„Ich werde dir nun die Wahrheit erzählen, auch wenn ich Gefahr laufe, dass du davon völlends verrückt werden wirst“, begann Eric unheilvoll seine Stimme zu heben. „Vor einigen Jahren waren wir beide im Kampf gegen die Königin und ihre fürchterliche Hexe mit dem Namen Arnaka. Diese Hexe besitzt unglaubliche Kräfte und hat dir mithilfe der Trolle deine Erinnerungen gestohlen und dich gleichzeitig in die Welt der Menschen geschickt. Ebenso sind deine Eltern verhext, denn sie glauben, du seist ihre Tochter. Ich habe dich die ganze Zeit gesucht und es hat lange gedauert, bis ich dich endlich in der Menschenwelt gefunden hatte.“

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst?!“, rief Emily laut und mit einem Mal war sie putzmunter. „Ich erinnere mich doch an meine Kindheit, die Schulzeit, meine Freunde und überhaupt!“

„Das ist alles die Magie der Hexe. Sie hat dir diese Erinnerungen passend zu deinem neuen Umfeld eingeflößt.“

Mittlerweile hatte sich Emily aufgesetzt und schrie Eric förmlich an: „Du bist verrückt! Das ist der größte Unsinn, den ich jemals gehört habe!“

„Nein, meine Liebe, es ist die Wahrheit. Ich kann im Moment nichts gegen deine Amnesie tun oder deine wirklichen Erinnerungen deiner wahren Persönlichkeit in dein Bewusstsein holen, aber ich hoffe, dass, wenn wir die Hexe töten, du dich wieder erinnern wirst. Ihr magischer Bann hält solange, bis sie ihn zurücknimmt oder stirbt.“

Diesen Unsinn konnte Emily einfach nicht glauben, zumal ihr Eric von Anfang an unheimlich und zwielichtig schien. Nun war sie mehr denn je überzeugt, dass er verrückt war und ihm nicht vertrauen konnte. Vermutlich hatte er alles von Anfang an geplant, um sie zu töten oder für irgendwas zu benutzen.

„Ich weiß, was du nun denkst!“, meinte Eric. „Doch mein Wissen aus unserer gemeinsamen Zeit ist mir sehr bewusst. Ich möchte dir nicht alles anvertrauen, um dein jämmerliches Bewusstsein zu schonen, das dir die Hexe vernebelt hat, aber ich bin bereit, möglichst für all deine Fragen bereit zu stehen.“

„Ich glaube dir kein Wort! Du willst mich nur von meiner Familie wegholen, damit du mich für irgendwas benutzen kannst.“

„Keineswegs, denn ich bin gekommen, um dich wieder dorthin zu bringen, wo du hergekommen bist: In deine wahre Welt. Du gehörst nicht in die Menschenwelt. Genauso wenig, wie ich dort hingehöre. Wir beiden sind die einzigen Wesen in dieser Welt, die nicht menschlich sind. Wir erscheinen menschlich, doch in Wirklichkeit sind wir es nicht.“

„Wenn du Recht haben solltest, wer bin ich dann gewesen? Wer bin ich wirklich?“, fragte Emily noch immer voller Zweifel.

„Du bist eine Elfe aus dem Land Zarnia gewesen. Wir lebten viele Jahrhunderte zusammen, bis wir eines Tages auf das schwarze Kind gestoßen sind. Das schwarze Kind war der Doppelgänger eines Menschenkindes, das seinen Schatten verloren hatte. Es bat uns um Hilfe. Dieses Kind wurde von der Königin entführt. Mit der Hilfe der Hexe Arnaka hatte sie es geschafft, den Schatten des Kindes zu stehlen und in ihr Reich zu befördern. Wir beschlossen in unserem Leichtsinn, dem Kind zu helfen und erklärten damit der Königin indirekt den Krieg. Daraufhin hat sich die Königin an die Hexe gewandt, weil sie Hilfe benötigte.“

Emily konnte nicht ein Wort von dieser wahnwitzigen und verrückten Geschichte glauben. Wenn er doch nur gesagt hätte, dass er einfach ihre Hilfe bräuchte und diesen Unsinn von ihrer tatsächlichen Vergangenheit ausgelassen hätte, dann wäre es vielleicht möglich gewesen, ihm zu vertrauen, doch unter diesen Umständen war eine Grenze in ihr überschritten worden und sie konnte ihm nicht mehr vertrauen.

Eric betrachtete sie eine Weile skeptisch. Er erkannte, dass sie ihm nicht glaubte. Er hatte ihr einfach zu viel zugemutet. Für einen Moment bereute er, ihr dies erzählt zu haben, denn anfangs hatte sie ihm bereits ausreichend vertraut und war bereit, in die Träume der Königin einzudringen. Doch nun verhielt es sich so, dass sie glaubte, sie habe es mit einem Verrückten zu tun.

„Ich weiß, dass du große Zweifel besitzt. Die Wahrheit ist oft unglaublicher als eine Lüge. Aus diesem Grunde glaubt man den Lügen leichter. Lassen wir doch meine Behauptungen einfach im Raum stehen und dringe in die Träume der Königin ein. Sobald du es geschafft hast, wirst du in ihren Träumen die Erinnerungen anzapfen können, in denen ihr euch bereits begegnet seid.“

Langsam senkte sich Emilys Blick. Sie war sich nun sicher: Eric war definitiv verrückt! Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet. Seine Verwandlungen, diese seltsamen Träume, das Dimensionstor, die Unterhaltung mit den Undinen. Bestimmt befand sie sich nur in einem Traum und schlief in Wirklichkeit tief in ihrem Bett. Hatte es sich nicht so verhalten, dass Eric mit einem Mal im Raum gestanden hatte? Ist das nicht typisch für das Träumen, dass irgendwer plötzlich aus dem Nichts erscheint? Und dann sein ganzes Gerede über seine Tochter und die Trolle. Sicherlich hatte er dies alles nur erfunden, um sie bis hierher zu locken. Das Misstrauen und die Zweifel wüteten in ihrem Kopf.

Mit einer sanften Bewegung ergriff Eric seinen Hut und zog ihn weiter ins Gesicht:

„Ich weiß, für dich bin ich nur ein Verrückter auf einer langen Liste, doch jedes meiner Worte ist wahr. Ich mag das eine oder andere Mal gelogen haben, um dein Vertrauen schneller zu gewinnen, aber ich hatte nie etwas Schlechts im Sinn. Ich wollte deine Eltern, dich und mich retten und vor allem, dich wieder zurückbringen.“

Wie aus heiterem Himmel erkannte Emily, das Erics Geschichte über seine Tochter nur ein Vorwand gewesen war, um ihr Mitleid anzuregen. Sie wäre niemals mit ihm gegangen, wenn nicht das Leben eines kleinen Mädchens auf dem Spiel gestanden hätte. Emily sprang voller Wut auf und trat einmal nach Eric, der sich nicht dagegen wehrte.

„Du hast mich belogen! Du hast behauptet, du würdest nur deine Tochter retten wollen! In Wirklichkeit geht es dir nur darum, an die Informationen zu kommen, die in den Träumen der Königin stecken! Gib es doch zu, verdammt!“

Bedächtig nickte Eric und offenbarte seine Lügen: „Ich musste das mit der Tochter so darstellen, sonst wärst du mir niemals gefolgt. Ich musste improvisieren! Es gab keine andere Möglichkeit, als dich an deinem Mitleid zu packen. Versetze dich doch in Anbetracht meines Wissens in meine Lage. Wie hätte ich anders vorgehen sollen? Hätte ich dir schon zu Anfang die Wahrheit mitgeteilt, wärst du niemals mitgekommen.“

„Das ist richtig!“, schrie Emily. „Niemals wäre ich dir gefolgt und ich hätte dir niemals vertraut! Und nun hast du es geschafft! Ich glaube dir überhaupt nichts mehr! Bring mich sofort in meine Welt! zurück Dort gehöre ich hin und dort sind auch meine Eltern und meine wahren Freunde! Lass mich also von nun an in Ruhe! Bring mich zurück!“

Tränen liefen über Emilys Wangen. Sie sank in sich zusammen und legte die Hände vor ihr Gesicht. Eric schaute zu ihr hinunter und fühlte den Impuls, sie in den Arm zu nehmen, aber er war sich nicht sicher, ob das die richtige Handlung gewesen wäre.

„Ich weiß, du hasst mich jetzt für meine Hinterhältigkeit, aber ich habe dir und deinen Eltern das Leben gerettet. Außerdem habe ich dir die Wahrheit erzählt, zumindest in kleinen Häppchen, und in diesen Momenten nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund und spreche wahr!“

„Ich hasse dich!“, flüsterte sie. „Ich hasse dich…“


(Ein fantastischer Fortsetzungsroman von © Jonathan Dilas)
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