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Staatenlos: Chania wie aus 1001 Nacht (Teil 8)

Reisefieber und staatenlos

‚Staatenlos‘ ist eine neue Rubrik, in der ich Artikel von meiner Reise durch Europa verfasse, über die Abenteuer, die auf mich warten und mit Fotos und Videos untermalt werden. Diese Artikel erscheinen nicht immer auf der Hauptseite! Also immer wieder mal auf der linken Seite auf diese Kategorie klicken und nachschauen, ob ein neuer Artikel oder Foto oder Video veröffentlicht wurde…

Triumphierend hielt ich ihn hoch in die Luft! Das grelle Sonnenlicht spiegelte sich für einen minimalen Moment auf seinem wunderschönen Bart und ein Strahl fiel direkt auf mein Auge! Welch ein heroischer Moment… Endlich! Endlich hatte ich…


…meinen Autoersatzschlüssel in meinen Taschen wiedergefunden! Die Zeiten geöffneter Kofferräume hatten genau in diesem Moment ihr Ende gefunden… Piep piep… und er funktionierte…

Nach schlappen 140 km kam ich in Chania an. So richtig konnten sich die Griechen auch nicht entscheiden, wie sie diese bezaubernde Stadt nennen sollten: Xania, Chania, Khania, Xhanis, Xavis, Xanis, Xavia, Hania, Kania… eigentlich fast jede Schreibweise war dabei. Doch von diesem unbedeutenden Umstand abgesehen, gefiel mir die Stadt auf Anhieb. Sie liegt direkt am Meer und die Innenstadt bzw. Fußgängerzone macht einen höchst verträumten Eindruck, fast wie aus 1001 Nacht. Es fehlten nur die fliegenden Teppiche, die wie lüsterne Jets am Himmel ihre Bahnen ziehen und vielleicht sogar kleine Rundflüge anbieten. Na ja, der Augenschmaus aus der Luftperspektive sollte mir zwar verwehrt bleiben, aber nichtsdestotrotz durfte ich das turbulente Leben Chanias erleben…

Und während ich mich auf der Hauptstraße befand, übermannten mich regelrecht die Eindrücke… Ein schwarzweißer Frenchie, der mich mit heraushängender Zunge anstarrte, ein blass geschminkter Pantomimenkünstler, der sich nur nach Münzeinwurf bewegte, eine braunweiße Katze schlich von einem Stuhl zum anderen, auf der Suche nach einem Stück heruntergefallenes Fleisch, zwei Mädels, die sich vor aufschäumender Meeresgischt fotografieren ließen, ein kleiner Junge mit traditioneller Lyra, der schief sang, zwei Blondinen in Hotpants mit identischen Smartphones in ihren Gesäßtaschen, ein türkisch aussehender Mann mit einem leuchtenden aerodynamischen Flugspielzeug, das in schillernden Farben zurück gen Boden schwebte, nachdem es in die Luft geflitscht wurde, eine freundlich lächelnde Ballonverkäuferin hielt mir einen quietschbunten Heliumballon hin, ein Pärchen mit flink rollenden Segways rasten an mir vorbei, drei wohl platzierte Vodafone-Verkäufer mit suchenden Blicken, die nach neuer Kundschaft suchten und ein dicker Grieche mit allzu kurzem T-Shirt wurde gerade mit seinem Motorroller von der Polizei angehalten… All diese Begebenheiten geschahen zur gleichen Zeit, simultaner kann das unmittelbare Erleben nicht sein, verrückt, laut, penetrant, sinnlos und doch verzaubernd.

Kaum einen Platz in einem hübschen Café gefunden und gleich mal einen Filterkaffee bestellt, beobachtete ich einen Straßenhändler, der Selfiestäbe zum Verkauf anbot. Das sind so Teleskopstangen, an dessen Ende man sein Smartphone befestigen kann, um wohl platzierte Selfies machen zu können. Man mag gar nicht glauben, wie beliebt diese Stäbe bei den Touristen sind.

Dann kam ein kleiner Junge herbei, kaum acht Jahre alt. Sein Vater, scheinbar professioneller Selfiestabverkäufer, drückte seinem, wie ich vermuten durfte, Sohn einen Plastikbecher und eine Ziehharmonika in die Hand und platziere ihn gleich mal vor den Außenbereich von Starbucks. Er solle doch einen mitleiderregenden Blick auflegen, unglücklich auf der Quetschkommode spielen und ein wenig herzzerreißend dazu singen. Ohne einen Moment des Zweifels und völlig selbstbewusst setzte er sich mitten auf den Boden und spielte äußerst laienhaft und bar jeder Scham irgendein improvisiertes Lied. Lautstark sang er dazu und sah für einen Moment wirklich mitleiderregend aus und zog vorwiegend die Blicke von Frauen auf sich, die schnell bereit waren, 50 Cent oder einen Euro zu spenden. Der Vater, noch immer im Hintergrund wachend, war mit der Arbeit seines Sohnes sehr zufrieden. Ein genauerer Blick ließ erkennen, er hatte viele Kinder…

Nachdem ich einen Hund beobachtet hatte, der einfach in den Springbrunnen des Platzes sprang und daraufhin einige Tropfen den daneben stehenden Pantomimenkünstler benetzten, fragte ich mich, wie viele Eindrücke man als Mensch auf einmal überhaupt aufnehmen könne?

Während ich nahezu ins Philosophieren geriet und die Sonne untergegangen war, sich die Dunkelheit über die Stadt Chania legte, kam ein kleines Mädchen auf mich zu. Sie hatte eine Ziehharmonika in der Hand, mit nicht mehr als einer Oktave, und fing direkt an zu spielen. Sie war sehr hübsch bzw. wird es irgendwann sicher einmal sein, aber war momentan niemals älter als sieben Jahre. Sie trug zudem ein luftiges Kleid und ich war sicherlich der 748. Mann, den sie angesprochen hatte. Ich wusste im ersten Moment nicht, wie ich darauf reagieren sollte, denn auf der einen Seite hätte man in Deutschland dieses kleine Mädchen sofort ergriffen und zur Polizei gebracht, um festzustellen, wer die Eltern waren und sie gleichzeitig über mögliche Gefahren pädophiler Männer aufgeklärt, von denen sicherlich jeder Zweite ein solcher sein könne, doch in Griechenland sprach dieses kleine Mädchen jeden Mann direkt und ohne jede Begleitung an spielte ihm direkt etwas etwas vor, in der Hoffnung, einen Euro zu erhalten. Ihre Zukunft schien mir für einen Moment in Stein gemeißelt…

„Money!“, meinte sie plötzlich, nachdem sie fertig gespielt hatte.

„Go on, play“, erwiderte ich und forderte sie auf, weiterzuspielen.

Sie verdrehte einmal genervt die Augen und spielte weiter. Nach weiteren zehn Sekunden hörte sie auf und meinte wieder: „Money!“ und piekte mit ihrem Finger in meine Seite… „Money… Money now!“

Ich sagte ihr, dass sie weiterspielen solle, doch sie schaute mich an und meinte dann schnippisch: „Ah, shut up!“, und ging weg.

Eine Frau, die unweit von mir an einem der Tische saß, schaute mich mit bösem Blick an. Ich hingegen freute mich, wenn ich sie das nächste Mal wiedersehen würde.

Am nächsten Tag saß ich dort wieder und siehe da, die Kleine kam erneut mit ihrer Ziehharmonika an… Bereits aus zehn Metern Entfernung sah und erkannte sie mich gleich wieder. Sie schaute mich kritisch an streckte mir die Zunge raus. Ich hingegen zeigte ihr eine lange Nase. Dann beobachtete ich ihre Vorgehensweise. Sie ging zu einem beliebigen Mann und stellte sich einfach in seinen Weg. Dann spielte sie ein paar Töne auf ihrem Instrument und hielt die Hand auf. Die meisten Männer waren nicht bereit, zu zahlen und sie gingen einfach weiter, um sie zu ignorieren. Doch das störte sie nicht. Sofort sprang sie einfach vor den fliehenden Mann und versperrte ihm bewusst den Weg. Das machte sie mit jedem Mann, der nicht zahlen wollte. Oder sie begleitete den Mann spielend, immer und immer wieder, ganz gleich, wohin er ging, und stupste ihn mehrmals an oder zog an seinem Hemd oder seinen Shorts, um ihn daran zu erinnern, bloß für ihren unvergesslichen Auftritt zu bezahlen. Nur zu mir hatte sie nun vermutlich ein gespaltenes Verhältnis.

Irgendwann kam sie dann doch noch zu mir und begann wieder zu spielen. Dies war vermutlich ihr letzter Versuch mit mir… Sie spielte wieder zehn Sekunden lang, wie gehabt, und forderte: „Money…!“

„Play further“, meinte ich dann zu ihr.

Sie schaute mich an und entgegnete: „I speak no english!“

Grinsend meinte ich dann zu ihr: „Learn English. More English, more money!“

„You are crazy!“, entgegnete sie mit erhobenem Haupt und ging fort.

Sie stürzte sich dann auf den nächsten Mann, ein Afroamerikaner, der dann lachend davon lief und sich strikt weigerte, auch nur einen Moment ihrer Musik kurz zuzuhören.

Ich dachte mir, wenn ich ihr einen Euro für ihre Künste gebe, dann bestätigte ich sie in ihrem Weltbild, dass man eine derartige Darbietung bringen müsse, um dafür Geld zu erhalten. Dies würde unweigerlich dazu führen, dass sie in zehn Jahren keine Ziehharmonika, sondern ihren Körper dazu benutzen würde, um zu ihren Euros zu kommen. Dies war höchstwahrscheinlich eine taktische Erziehungsweise ihrer Eltern. Doch auf der anderen Seite konnte ich diesen Werdegang nicht aufhalten, dafür beherrschte ich die griechische Sprache nicht ausreichend und würde auch nicht lang genug bleiben, um etwas in ihrem Leben verändern zu können. Alternativ hätte ich sie vermutlich erst einmal entführen müssen, um ihr eine andere Lebensweise zu zeigen, aber dies hätte sicherlich Probleme mit den Behörden heraufbeschwört. Was immer ich tun konnte, endete in der gleichen Problematik. Also blieb alles so, wie es war und es verblieb weiterhin die freie Entscheidung eines jeden, ihr einen Euro zu geben oder nicht. Verhindern konnte man es nicht und einen Euro wird immer jemand geben, um sie in ihrer Handlung und die dafür erhaltene Belohnung zu bestätigen.

Plötzlich hörte ich ein Trommeln, direkt neben mir! Da stand nun ein weiteres Mädchen mit blaugrauem Kleid, maximal sechs Jahre alt und hochgebundenem Haar, die mir ungefragt etwas vortrommelte. Noch eins der Mädchen, die ausschließlich Männer ansprachen, um ihre Herzen zu erobern… Nach zehn Sekunden meinte sie: „Money!“

Noch eine, die ich entführen müsste…. Nein, das wird mir zu viel Arbeit… Ich gab den Mädels ihre Euros, damit sie ihrer Wege gingen, trank weiter meinen Kaffee und genoss die Kühle des Abends…

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