Die wahren Helden
Eine Kurzgeschichte von Jonathan Dilas
Nun sitze ich bereits seit Stunden an diesem dunklen Ort und kauere hockend am Boden.
In meiner Hand spiele ich mit einer Fernbedienung herum, während mein Daumen unaufhörlich den Einschaltknopf umkreist, als sei er drehbar wie die Kugel einer Computermaus.
Ich habe wirklich genügend Zeit besessen, mich auf diesen Moment vorzubereiten. Immerhin ist dies die längste Nacht meines Lebens und wenn ich die heutige als Summe aller Nächte betrachte, die einzig und allein nur dazu erlebt wurden, um mich zu dieser heilvollen und absolut glorreichen Stunde zu führen, so kann ich nun getrost zum Ausdruck bringen, was mich in den letzten Monaten in meinem Herzen zutiefst bewegt und motiviert hat.
Für einen Augenblick erkenne ich vor meinem inneren Auge deutlich all die durchlebten Nächte, die sich, jede für sich selbst und doch mit allen anderen verbunden, so wie eine Ansammlung von Milliarden Zellen, die einen Körper ergeben, aber dennoch jede für sich allein arbeitet, in einem Halbkreis anordnen und einem Vogelschwarm gleich auf diese eine Nacht hinauszulaufen, so wie der Mensch sich vom Affen zur Krönung der Schöpfung entwickelt haben mag oder die Kaulquappe zur Kröte. Es ist ein erhebender Moment, denkwürdig und elegant zugleich. Wie anders hätte es mir sonst gelingen können, jetzt an diesem Ort zu sein, wissend, dass er gleich zurückkommen wird.
Ich lächele über den Gedanken, dass, wenn ein Psychologe unsere Situation beurteilte, er gewiss zu dem Schluss kommen würde, es mit zwei Verrückten zu tun zu haben, die sich in ihrer paranoiden Wahnvorstellung zur unwiderruflichen Destruktionsmanie hinaufgeschaukelt haben.
Gut, vielleicht war es nicht besonders klug gewesen, so ad hoc eine veraltete Konzertanlage mit 12 Lautsprecher-Bassreflexboxen und einer Leistungsfähigkeit bis zu 80.000 Watt zu kaufen, nur um den Klang meiner DVD-Anlage zu verfeinern.
Wie man sicherlich weiß, sind die Soundeffekte in diesen Filmchen wesentlich lauter als die Dialoge. Wen kümmern schon diese unwichtigen Gespräche, wenn man doch spielend einfach aus der Handlung lesen kann?
Der Bösewicht prangert stets mit dunklem Anzug und wildem Blick den Helden in seiner kämpfenden Verzweiflung an, der den gutmütigen Ritter mimt. Der Held glaubt besser zu sein als all die anderen, wird jedoch immer wieder in weitere ausweglose Situationen geführt, aus denen er sich ohnehin wieder befreien wird, einzig und allein, um den Schakal Blut lechzend zur Strecke zu bringen.
Es gab Augenblicke, in denen ich mich fragte, ob die Guten nicht die wahren Unholde sind, denn die Bösen töten seltenst direkt. Sie treiben den Helden zwar in eine schwierige Situation, aber sie geben ihm immer wieder die Chance, sich selbst und vielleicht seine Angebetete zu befreien. Der Held hingegen hat nur den schnellen Tod des Bösewichts im Sinn und jagt ihn unaufhörlich, bis dessen Herz zum Stehen gelangt. Eventuell ist unsere Welt nur verdreht und das Resümee, das man vielleicht im Moment seines letzten Atemzuges realisiert, ist, dass das Gute das Böse ist und umgekehrt, oder dass es überhaupt kein Gut und Böse gibt, auf das man sich verlassen könnte, um der Welt voller Kritik und Schmach für den einen und mit Lob für den anderen entgegenzutreten.
In diesem Weltirrtum bade ich meine Seele … denn er und ich sind die wahren Guten, denn die vermeintlichen, mordlüsternen Helden gibt es bei uns nicht. Wir wissen, woran wir sind, und es gibt keine Missverständnisse, kein Herumgejammer, Zögern oder Zweifeln, sondern nur den listigen Zwist.
Vor mir liegen zwei Drähte, eine kleine, gekrümmte Zange, Isolierband, eine Ampulle mit selbst gemischtem Nitroglycerin und drei Milligramm Plastiksprengstoff plus einem Fernauslöser, den ich gerade aus der Hand gelegt habe, um das Fenster zu öffnen.
Eine klare, frische Brise kommt herein und trocknet den Schweiß auf meiner Stirn. Einige Wolken verdecken den vollen Mond, erhalten durch ihn eine leuchtende Korona und dieser Anblick verschönert die Nacht um ein Vielfaches.
Gut, es gab Augenblicke, in denen man sich versöhnen und zu einem Bier hätte treffen können. Wir hätten unsere fein geschmiedeten Pläne abgelegt und die Kneipen der Umgebung unsicher gemacht. Doch das ist nicht unsere Art, nicht unser wahrer Charakter. Ebenfalls sind wir keiner dieser friedvollen Pazifisten, die sich ausschließlich darauf spezialisiert haben, unter dem Schein der Antiautorität endlose Diskussionen zu führen, so lange, bis man ihnen Recht gibt, nur um seine ersehnte Ruhe wiederzuerlangen.
Wir sind uns einig. Wir möchten keine Birkenstock tragenden Schwächlinge werden, mit dem Drang, die Welt zu retten. Sie sind die verweichlichte Ausgabe der Filmhelden, nichts weiter. Im Inneren sind sie ebenso abgrundtief böse und verdorben. Es geht ihnen ebenfalls nur darum, ihre Widersacher auszuschalten, entweder mit ihrem pädagogischen Gerede oder indem sie ihrer eigenen Verzweiflung nachgeben und sich Verstärkung vonseiten irgendwelcher Institutionen, Psychologen und Ärzten erhaschen.
Filmhelden trachten nach Konfirmation, Selektion und Ausrottung widerspenstiger Geschäftsleute. Nichts anderes findet man auch in den Präsidenten der USA. Auch gelten sie als Helden, die sich für die Tode des WTC-Unglücks einzusetzen wissen. Aus welchem Grunde sollten solch kriegslüsternen, rachedurstigen Männer wiedergewählt werden, wenn sie nicht tief in ihrem Inneren Filmhelden wären? Bestätigt dies nicht im vollen Umfang die Existenz des Weltirrtums im Verwechseln von Gut und Böse oder der offensichtlichen Nichtexistenz dieser beiden postulierten Kräfte? Natürlich! Wie einfach ist die Welt zu verstehen, wenn man die Vorzeichen ein wenig verändert.
Langsam stecke ich die Drähte zusammen, bringe das Plastik an dem Reagenzglas an, stelle den Empfänger ein und befestige mein Kunstwerk unter dem Fensterbrett.
Ich bin keineswegs böse. Die Installation dieses Kunstwerkes ist eine weitere Chance, die Courage und das Geschick meines Gegners zu prüfen. Wenn es mir einzig und allein darum ginge, ihn zu töten, so würde ich mir doch ein Gewehr kaufen, eine Zielhilfe installieren und ihn von irgendeinem Dach aus erschießen, aber das ist viel zu simpel, stillos und ausschließlich von fader Vergeltungssucht erfüllt. Viel eleganter ist es, seine kreative Ader zu fördern, sie zum Ausdruck zu bringen, damit der Gegner einen Moment der Besinnung erfährt, darüber reflektieren kann, wie es ist, der Lebensgefahr ausgesetzt zu sein.
Ganz zu schweigen von dem erhebenden Gefühl, wenn er es schafft, sich der Gefahr zu entziehen und auch noch unversehrt zu überleben. Das ist wie Bungeespringen! Dem Tode ins Auge geblickt und dennoch seinen Klauen entronnen zu sein. Dies hebt das Selbstwertgefühl.
Nun denke man einmal in aller Ruhe darüber nach, welch Samariter und Psychologe in einem vermeintlichen Bösewicht steckt! Jahrelange Therapie und ellenlanges Gequatsche vermögen nicht das zu schaffen, was die Möglichkeiten einer gelungen aufgebauten Falle zu erreichen vermag. Das ist Therapie und Heilung zugleich. Der Tod umkreist sein schwaches Opfer, ohne gleich auf ihn niederzustürzen, um ihm die Seele aus dem Leib zu reißen, nein, auch er kommt auf seine Kosten, wenn er solch einem abwechslungsreichen Schauspiel zuschauen und seinen Stoß endlos in die Länge ziehen darf. Gut, es kann vorkommen, so wie in unserem Fall auch, dass selbst der dritte Anschlag nicht gelungen ist. Dies jedoch zeugt von frischem Spielgeist und steigert die Herausforderung immerzu.
Zuversichtlich schließe ich das Fenster und blicke noch einmal nach draußen. Der Mond hat sich seinen Weg mittlerweile freigekämpft. Er strahlt nun in seiner vollen Blüte am dunklen Himmel dieser alles entscheidenden Nacht. Es ist, als warte er mit mir auf meinen Gegner, der mir in seiner Wut nicht banal die Tür einrannte und mich zu Boden schlägt, sondern kurzerhand beschloss, den Estrich seines Wohnzimmers mit einem riesigen Schlagbohrer aufzubohren und auszuwechseln. Oder seine wundervolle Idee mit der wohl riechenden, aber vergifteten Pizza.
Auch er hat erkannt, dass ein Duell nicht mit einem simplen Schuss über den Sieger entscheiden darf, indem sich die Beteiligten nicht all ihrer verborgenen Fähigkeiten bewusst werden können, sondern der lang anhaltende Genuss an sich. Welch entzückender Moment, wenn man entspannt in seinem Lieblingssessel sitzt, die Beine hochlegt und stundenlang darauf warten kann, ob der Gegner in die Falle läuft oder sich daraus befreien mag.
Nun gleitet mein Blick langsam auf die Laternen und die matten Lichtkegel, die auf die Straßen und Bordsteine fallen. Die Fassaden der gegenüberliegenden Hochhäuser grinsen mich teuflisch an, sodass ich für einen Augenblick misstrauisch werde…
Mein Blick wird sichtlich unruhig und hetzt die Straße entlang, sucht zwischen Ästen, die die Sicht versperren, bis sie eine kleine, rote Leuchtdiode in der Dunkelheit ausmachen. Zuerst leuchtet sie statisch, doch eine Sekunde später beginnt sie zu blinken, ebenso wie es jener Fernauslöser vollbringen kann, den ich unlängst bei einem guten Freund bestellt hatte und gerade in meinen Händen halte, nur dazu gedacht, in dem Moment ausgelöst zu werden, sobald mein geliebter Feind das weiße Kopfkissen vom seinem Bett nimmt, es auf der Fensterbank platziert und seinen Oberkörper darauf legt, um entspannt von seinem vertrauten Fenster aus auf die Straße zu blicken.
Wie schön wäre es gewesen, wenn er nichts ahnend, dass sich unter ihm 50 ml Nitroglycerin befindet, das von einer fein ausgeklügelten, kaum bemerkbaren Menge an Plastiksprengstoff in Vibration gebracht und mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu 50% eine mörderische Explosion auslösen wird, die seine fleischliche Hülle gegen die Zimmerdecke schleudert, nur um ihn daraufhin verletzt oder gar tot zu Boden fallen zu lassen. Auf diese Weise habe ich ihm eine Überlebenschance gewährt, so wie es sich für einen „Bösewicht“ unserer Art gehört.
Doch mein eingefrorener Blick ist noch immer fest fixiert auf die blinkende Leuchtdiode in der Ferne und lässt einen allerletzten Gedankengang durch mein Hirn rasen. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit erkenne ich, dass mein lieber Nachbar meine Wohnung mit Wanzen ausgestattet und somit von meinem Plan erfahren hatte.
Er hatte sich daraufhin ganz einfach den gleichen Fernauslöser wie ich besorgt, um ihn genau dann zu betätigen, wenn ich diese teuflische Bombe fertig gestellt und angebracht hatte…