Walk-Ins
(Ein Traum wird zu einer Kurzgeschichte)
Die folgende Kurzgeschichte Die Tochter existierte zuerst als ein Traum. Die Länge des Traumes bot sich daher an, daraus eine Kurzgeschichte zu verfassen. So wird Dream to Reality, d.h. ein Traum zu einem Bestandteil der Alltagswelt…
(Eine fantastische Kurzgeschichte von © Jonathan Dilas)
Manchmal macht es einfach Spaß, ein wenig durch die Stadt zu bummeln, vor allem, wenn man weiß, dass man an diesem Tag nichts mehr zu tun hat.
Während ich die Fußgängerzone entlang gehe, fällt mir in der Spiegelung eines Schaufensters eine junge Frau auf, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, mit langen blonden Haaren, heller Jeans, braune Schuhe und einer hellblauen Bluse. Ganz offensichtlich scheint sie mich genau zu beobachten. Als ich mich zu ihr umdrehe und ihren Augenkontakt suche, nur um zu sehen, wie sie reagiert, hat sie sich schnell abgewendet und geht fort.
Ich beschließe eine Kleinigkeit zu essen und dabei die Aussicht auf einem Dach eines Restaurants zu genießen.
Eine Mutter füttert ihren kleinen Sohn, eine Geschäftsfrau im grauen Kostüm telefoniert angeregt während ein Rentner einen freien Tisch zu erhaschen versucht. Der Straßenlärm ist hier oben kaum zu hören und in der Ferne bimmelt höchstens mal eine Straßenbahn. Es dämmert langsam und ein warmer Wind verführt die Jacke an diesem Oktobernachmittag zu öffnen.
Während mein Blick über die Berge streift und dann neben dem Eingang des Restaurants sein Ende findet, erkenne ich erneut diese junge Frau. Sie steht hinter der Glastür und schaut zu mir herüber.
Ich rufe sofort die Kellnerin herbei und bezahle meine Rechnung. Danach stehe ich auf und muss erkennen, dass sie schon wieder verschwunden ist. Schnell verlasse ich das Gebäude und hoffe, sie noch unten zu entdecken. Auf der Straße angekommen schaue ich mich sofort um, aber kann sie nicht mehr entdecken.
Ich denke noch darüber nach, wieso sie mich verfolgen möge, aber weder habe ich sie je zuvor gesehen, noch kann ich mir vorstellen, wer sie sein könnte. Sehr wundert mich ihre Zurückhaltung, obwohl sie den Anschein erweckt, als wolle sie mit mir in Kontakt treten.
Am anderen Tag mache ich einen Spaziergang im Wald. Fingerhüte und moosbedeckte und mit Ranken verzierte Bäume vermitteln einen märchenhaften Eindruck und färben den Nachmittag angenehm verträumt. Die Sonne scheint durch die Baumspitzen und in der Ferne höre ich noch einen Specht.
Bereits nach einer viertel Stunde fällt mir an der nächsten Weggabelung abermals diese junge Frau auf. Ich beschleunige meinen Schritt nicht und gehe ganz normal weiter, so als hätte ich nicht bemerkt, dass sie mich verfolgt. Tatsächlich bleibt sie stehen und wartet, bis ich auf ihrer Höhe bin. Sie spricht mich direkt an:
„Ich brauche deine Hilfe.“
Ich bleibe stehen und stelle mich vor sie. „Worum geht es denn?“
Sie zieht mich sofort von dem Waldweg fort und wir setzen uns auf einen Baumstamm. Ohne eine weitere Erklärung holt sie einige Papierseiten hervor und überreicht sie mir.
„Das ist eine Abschrift aus dem alten Testament der Bibel. Lies es bitte.“
Ich fühle mich jetzt umso überraschter von ihrer stürmischen Vorgehensweise. Für einen winzigen Augenblick habe ich den Gedanken, dass sie vielleicht eine Christin ist, die mich bekehren möchte, aber habe sehr schnell das Gefühl, dass dies höchst unwahrscheinlich ist.
Mein Blick gleitet über das Papier und ich überfliege es kurz. Es wirkt in seiner biblischen Sprache wie gewohnt verschleiernd und pathetisch, doch mir fällt auf, dass es hierbei um Menschen geht, die von den Toten auferstanden sind und nicht mehr jene waren, die sie einst gewesen sind.
„Was möchtest du mir mit diesem Schriftstück sagen?“ frage ich.
„Ich werde in Kürze sterben.“
„Woher willst du das wissen? Du machst einen sehr gesunden Eindruck auf mich“, entgegne ich.
„Das ist richtig, aber ich werde einfach umfallen und tot sein. Doch mein Körper wird wieder auferstehen.“
Diese Aussage verwirrt mich für einen Moment. Wenn sie nun gesagt hätte, dass sie wiederauferstehen würde, dann wäre es verständlich gewesen, aber sie scheint sich selbst nicht mit einzubeziehen.
„Und wo wirst du dann sein?“
„Ich werde in eine neue Welt aufbrechen“, antwortet sie schnell und sicher.
Ihre blauen Augen fixieren mich. „Sag, wie alt schätzt du mich?“
„Du bist nicht älter als 18 würde ich sagen“, gebe ich zu und grinse breit.
„Du liegst falsch. Ich habe eigentlich gar kein Alter mehr. Doch wenn ich das Alter meines Körpers hinzu zähle, den ich vor diesem hier besaß, dann bin ich bestimmt schon eine Frau, die Anspruch auf ihre Rente hat.“
Ihre Art und ihre Ausstrahlung gefallen mir. Sie besticht mit ihrer Offenheit und Direktheit, die sie jedoch ohne eine Spur von Arroganz oder Besserwisserei präsentiert.
Sie fährt fort: „Doch wenn du möchtest, dass ich wie eine 17jährige rede, die um ihr Abi bangt, dann kannst du das gleich voll krass haben.“
Wir lachen.
Doch in meinem Kopf rattert es wie wild. Möchte sie mir sagen, dass sie die Persönlichkeit verdrängt hat, die sich zuvor in ihrem Körper befunden hat oder kann ich einfach nicht nachvollziehen, was sie zum Ausdruck bringen will? Spricht sie ganz einfach über Reinkarnation, sodass sie vielleicht die Erinnerung an ihr früheres Leben aus irgendwelchen Gründen behalten konnte? Ich frage noch mal genauer nach, doch sie wiegt mit dem Kopf hin und her.
„Nein, das ist keine Reinkarnation von der ich hier spreche. Das Mädchen, dessen Körper du hier noch sehen kannst, ist nach einem Unfall in ein Koma gefallen. Ich habe sie dann auf einer Art Zwischenebene angesprochen und sie darum gebeten, mir ihren Körper zu überlassen. Immerhin hatte sie sich dazu entschieden nicht wieder in die physische Welt zurückzukehren.“
„Du willst mir also sagen, dass das Mädchen, das diesen Körper vor dem Koma bewohnte, jetzt nicht mehr hier ist?“
„Richtig.“
„Und woher will ich wissen, dass du nicht einfach nur schizophren bist und jetzt in diesem Moment eine Rentnerin spricht und das Mädchen, das eigentlich diesen Körper bewohnt, verdrängt hast?“
„Das werde ich dir hier und jetzt nicht beweisen können, aber du wirst am eigenen Leib erfahren, wie es ist.“
In diesem Moment fühle ich mich ein wenig bedroht. Immerhin würde dies bedeuten, dass ich in Kürze ebenfalls sterben werde.
„Du brauchst dir keine Sorgen machen, ich werde es dir genau erklären: Persönlichkeiten, die darauf warten, dass sie einen Körper erhalten können, der sich vielleicht gerade in einem Koma befindet, werden, wie du sicherlich weißt, Walk-Ins genannt. Aus dem Grund zeigte ich dir den Text aus der Bibel. Bereits vor vielen tausend Jahren waren manchen Menschen die Walk-ins bekannt. Wenn wir auf der Zwischenebene, auf der man sich nach dem Tod eine Weile aufhält, einen Menschen treffen, der beschlossen hat, nicht wieder zu seinem Körper zurückzukehren, so bitten wir ihn, uns diesen zu überlassen.“
„Das fällt doch auf. Ich meine, ihr habt doch niemals genügend Informationen, um die Rolle der jeweiligen Person nachzuspielen. Das ist so, wie wenn man für ein Theaterstück im letzten Augenblick einen Ersatz für die Hauptrolle finden muss. Er wird niemals den Text kennen“, argumentiere ich weiter.
„Da hast du sicherlich Recht, aber damit müssen Walk-ins leben.“
Ihre klaren Augen schauen mich eindringlich an und ich habe das Gefühl, dass sie etwas in mir sucht. Sie spricht weiter:
„Wenn sich ein Walk-In weit genug entwickelt hat, dann wandelt er sich irgendwann zu etwas Anderem und wird fortan als Stalker oder Walker bezeichnet. Dieser hat es geschafft sich von den Einflüssen der physischen Welt zu befreien und ihrer starken Anziehungskraft in jeder erdenklichen Weise zu widerstehen. Von diesem Moment an kann er seinen eigenen Körper innerhalb eines physischen Systems erschaffen oder ihn einfach wieder verschwinden lassen. Solche Tauschgeschäfte, wie sie die Walk-Ins praktizieren, sind dann gar nicht mehr notwendig. Walker sind dann sogar in der Lage jeden erdenklichen Körper anzunehmen und jede Rolle zu spielen, die ihnen beliebt. Das klingt in deinen Ohren vielleicht ungeheuerlich, doch es ist tatsächlich möglich und tagtäglich kannst du mit Hunderten oder gar Tausenden von ihnen rechnen, die das praktizieren. Ebenso viele, wie es sich bei den Walk-Ins verhält.“
„Das klingt wirklich sehr spannend.“
„Die Naturgesetze sind in Wirklichkeit eure Naturgesetze, die ihr meint, entdeckt und verstanden zu haben. Doch das, was ihr bisher herausgefunden habt, ist nicht viel. Ihr habt weder die Natur des Bewusstseins oder des Denkens verstanden, noch viele andere Möglichkeiten des Geistes, die unterbewusst agieren und auf ihre Aktivierung warten. Ganze Gehirnregionen arbeiten in bestimmten Zeiten so, als wären sie völlig ausgebildet, doch ihr bekommt noch nicht viel davon mit. Es wird irgendwann eine Zeit kommen, in der ihr die wahren Naturgesetze verstehen werdet, aber das, was ihr bisher verstanden habt, sind eure subjektiven Gesetze. Sie haben nicht viel mit den tatsächlichen Naturgesetzen zu tun. Ich stehe momentan an der Schwelle, an der ich meinen Körper zum letzten Mal abgebe und dann zu einem Walker auf steige. Dies ist für mich ein wichtiger Schritt und aus dem Grund benötige ich einen kleinen Stupser von einem anderen Walk-In.“
Sie grinst mich breit an und plötzlich fühle ich einen starken Sog, der von ihrer Ausstrahlung ausgeht und direkt auf mich einwirkt. Es ist, als fiele ich nun in einen Fluss, der mich mitreißt oder werde in eine Strömung gerissen, die mich unbarmherzig nach unten zieht…
„Da bist du ja endlich! Wo hast du nur gesteckt? Wir haben uns schon Sorgen gemacht!“ blafft mich eine Frau mittleren Alters an.
Ich schaue mich um. Offensichtlich befinde ich mich gerade in einer Küche. Die Frau steht unmittelbar vor mir und macht ein besorgtes Gesicht. Sie trägt eine weiße Bluse und eine beigefarbene Stoffhose. Ihr Haar ist mittellang, dunkelblond und sie erwartet eine Antwort von mir.
Am Tisch sitzt eine Frau gleichen Alters. Sie trägt eine Brille, hat dunkelbraunes Haar und trägt einen dunkelbraunen Pulli. Sie wirkt ein wenig autoritär, pädagogisch. Ich habe die Intuition, dass sie eine Lehrerin ist.
„Wir sitzen hier schon den ganzen Tag, haben herumtelefoniert und dich suchen lassen. Wieso hast du dich nicht gemeldet?“
Ich weiß nicht, wie ich antworten soll. Wenn ich jetzt alles, was ich über mich selbst zu wissen glaube, einfach vergesse, dann würde ich sagen, dass ich mich gerade in einer Situation befinde, in der ich ein minderjähriger Jugendlicher bin, der zu spät nach Hause gekommen ist. Die Frau vor mir dürfte dann meine Mutter sein und am Tisch sitzt eine Lehrerin aus meiner Schule.
Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern, wo ich gerade noch gewesen bin… Dunkelheit legt sich über meine Erinnerung, aber ich schaffe es, mich noch daran zu erinnern, dass ich gerade noch mit einer jungen Frau geredet habe, die die Fähigkeit besaß, sich in andere Körper zu transferieren. Nur, wer ist sie gewesen? Woher kannte ich sie?
„Jetzt antworte schon! Ist etwas passiert? Hat dir jemand etwas angetan?“
„Nein, es ist nichts Schlimmes passiert… ich…“ stammele ich vor mich hin, während ich verzweifelt versuche, die Situation richtig einzuschätzen und genauestens zu verstehen, was hier überhaupt vor sich geht.
Rasend schnell versuche ich sämtliche Informationen zu verknüpfen und so verrückt es klingen mag, aber es scheint so, als hätte diese junge Frau, die sich als bewusste Seelenwanderin ausgegeben hat, irgendwie mit meinem Körper getauscht! Oder sie hat ihn mir überlassen und ich kann nun zusehen, wie ich das Problem löse. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte, was sie zuletzt zu mir gesagt hat.
Erwartungsvolle Gesichter schauen mich an. Nun beginnt die Lehrerin zu sprechen:
„Judith, nun sage uns bitte, was passiert ist. Du bist heute Morgen doch zur Schule gegangen, oder?“
„Ja, natürlich“, antworte ich intuitiv.
„Und wann hast du die Schule wieder verlassen?“
„Um 14 Uhr ungefähr.“
Sie schaut mich misstrauisch an.
Anscheinend ist sie zwar von meiner Schule, aber unterrichtet mich nicht. Es könnte sein, dass meine Mutter mit ihr befreundet ist. Das würde auch erklären, wieso sie den ganzen Tag über hier zusammensitzen und sich Sorgen machen können.
„Bist du sicher?“ hakt sie nach. „So viel ich weiß, ist freitags nicht bis 14 Uhr.“
Da fange ich schon an mich in Widersprüchen zu verstricken, denke ich Rat suchend.
„Ich… ich weiß es nicht mehr genau. Normalerweise ist es ja ein Tag wie jeder andere. Jedenfalls bin ich danach in der Stadt herumgebummelt und danach ein wenig im Wald spazieren gegangen. Ich muss völlig die Zeit vergessen haben.“
„Wir haben uns doch Sorgen gemacht! Du bist auch nicht ans Handy gegangen oder hast dich mal gemeldet. Ich habe mit dem Essen auf dich gewartet. Du weißt doch, letzten Monat ist hier einer Schülerin etwas passiert. Wir dachten schon…“, fährt sie mit ihrem Gerede fort.
Ich sammele krampfhaft Informationen und mit einem Mal scheint sich etwas in meinem Kopf zu öffnen! Es fühlt sich an, als öffne sich eine Art Kanal und mit einem Mal fließen Informationen in mich hinein, die mich aus der Situation retten: Es sind sämtliche Erinnerungen an Judiths Leben, der jungen Frau, die ich nun bin. Deutlich sehe ich ihre Kindheit vor mir, meine Eltern, den ersten Schultag, die Anmeldung ans Gymnasium, meine Hobbys und meine Freunde. Und nicht nur das, sondern ich sehe, dass ich bei einem Unfall mit dem Auto in ein Koma gefallen war.
Ebenso so deutlich kann ich auch meine bzw. Judiths Gründe erkennen, wieso sie diesen Unfall erlebte. Sie wollte in dieser Welt nicht mehr leben. Sie hat ihren Freund verloren, der den Freitod gewählt hatte, und wünschte sich von tiefstem Herzen zu ihm. Frisch aktualisiert ist selbst der heutige Tag Teil dieser Erinnerungen.
Ein komplettes Leben wird innerhalb von Sekunden in mein Bewusstsein übertragen und verdrängen immer mehr die Erinnerungen, die ich noch an jene Person besitze, welche ich zuvor gewesen bin. Es kostet mich eine immense Anstrengung, aber es gelingt mir so eben, meine ursprüngliche Identität aufrechtzuerhalten und Judiths Erinnerungen separat zu betrachten. Es ist keine Persönlichkeitsspaltung, sondern vielmehr ein sich nun erweiterndes Rollenrepertoire, das sich mir nun offenbart.
Mittlerweile erinnere ich mich auch an das Gespräch mit Judith in dem Wald und ich verstehe ihre Aussagen unmittelbarer als mir wirklich lieb ist: Walk-Ins spielen Rollen und müssen zusehen, dass sie ihre Ankunft nicht verraten. Sie spielen die Rolle jener Person, dessen Körper sie auf ihrem Weg zum Walker übernommen haben.
Während ich meine Mutter beruhige und ihr deutlich mache, dass sie sich keine Sorgen machen muss und ich wieder in einen Unfall verwickelt oder gar sexuell belästigt wurde, verarbeite und sammele ich alle erforderlichen Informationen, um nicht aufzufallen. Doch suche ich angestrengt nach einer Erklärung für mich persönlich.
Was ist aus meinem Körper geworden? Wie lange werde ich Judith sein? Bin ich nun ein Walk-In oder vielleicht ein Walker? Was ist meine Aufgabe? Und wieso hat mich niemand gefragt, ob ich all das wirklich will, was hier vor sich geht?
Doch in dem Moment kommen keine Antworten zu mir, sondern nur weitere Informationen über Judiths Leben, ihre Lieblingsstars, ihre bevorzugten Kinofilme, die Gesichter ihrer Freunde, die letzte Geburtstagsparty…