Der Schlüssel
(Eine fantastische Kurzgeschichte von © Jonathan Dilas)
Die Nacht war sehr mild. Der Mond stand hoch am Firmament und ein angenehmer Wind strich ihr immer wieder übers Gesicht. Ein Blick nach oben ließ Wolkenfelder erkennen, die über den Mond glitten und für einen Moment schien es ihr so, als wäre er eine wunderschöne, weiße Kugel, die sich wie ein fremdes Objekt am Himmel fortbewegte. Nun schaute sie wieder nach vorn. Ein feuchter Film lag noch auf den Straßen durch den Regen am Abend.
Sie irrte schon seit Stunden durch die Stadt und es war bereits nach Mitternacht, als sie sich immer wieder dabei ertappen musste, wie ihre Gedanken nach einer Lösung suchten. Wie in einem Traum jagte sie durch ihre Gehirnwindungen und stolperte von einem Gedanken zum anderen, ohne nur einen Moment auf ihre Gegenwart zu achten oder wohin die Absätze ihres Schuhwerks treten mochten. Vielleicht, so dachte sie bei sich, würde ihr endlich eine Lösung einfallen und den Zeitpunkt finden, der ihrer gesamten Denkweise einen Stoß vermitteln würde, damit sie endlich aufhörte so zu denken, wie sie es schon immer getan hatte.
Es schien ihr in dieser Nacht das erste Mal deutlich geworden zu sein, dass ihre Gedanken der Grund für all ihre Probleme waren und dass sie sich ihnen einfach nicht entziehen konnte. Wie verrückt es ihr in einem Augenblick erschien, als sie in Erwägung zog, ein für alle Mal mit dem Denken aufzuhören, doch dergleichen schien ihr ein sinnloses und unmögliches Unterfangen. Kein Fall dieser Art war ihr jemals zu Ohren gedrungen und entzog sich somit jeder Option.
Ihre Augen trafen auf einen Burgerladen. Seine Leuchtreklame schmerzte in ihren Augen. Sie hatten sich mittlerweile angenehm an die Dunkelheit gewöhnt.
Sie betrat den Burgerladen und ging vor bis zur Theke. Spiegelsäulen an den Enden der Theke gaben ihre ruinierte Frisur aus allen Perspektiven wieder. Strähnig hing ihr Haar herab und wellte sich an den Spitzen. Ihre Augenringe deuteten eher auf verschmierte Schminke hin, denn auf ihre Schlaflosigkeit der letzten Nacht.
»Ja bitte?«
Ein Mann in den Dreißigern stand hinter der Theke und trug eine dieser albernen Kappen mit ihrem optimal in Szene gesetzten Emblem, das sich am liebsten für immer in die Augen der Betrachter brennen würde.
»Ich hätte gern einen Kaffee.«
Sie setzte sich trotz des grellen Neonlichts an einen der leeren Tische und rührte kurz darauf mit dem Plastiklöffel unmotiviert in ihrem Kaffee. Langsam gab sie noch ein wenig Milch hinzu und schielte zum Zucker. Es war nicht so, dass sie keinen Zucker in ihrem Kaffee mochte, aber ihre momentane Stimmung hinterließ einen lustlosen Beigeschmack der Gleichgültigkeit gegenüber ihren vertrauten Gewohnheiten. Es war der Beginn einer dieser langwierigen Nächte, die ihr schon vertraut schienen.
Die Zukunft war völlig gleichgültig und die Vergangenheit nur noch ein dunkler Fleck in irgendeinem Winkel ihres Hirns.
Die Gegenwart hingegen schwappte seicht vor sich hin und im Inneren fühlte sie eine bekannte Melancholie, die mit Gewissheit der Urheber dieser mutlosen Nacht bleiben würde. Ihr Optimismus, der ihr von Freunden immer und immer wieder eingetrichtert wurde, verlor sich nun in eine zähe Erkenntnis und Einsicht darüber, dass dieser stets ausschließlich dem Trost gedient hatte, aber niemals eine zutreffende Zukunftsprognose gewesen war. Die Gesichter ihrer Freunde glitten an ihrem inneren Auge vorbei und verblassten in einem diffusen Gedankennebel, der nun weiteren Gedanken platz machte. Sie ertappte sich dabei, dass sie hoffte, dieser Moment würde ewig dauern, als sollte einfach die Zeit angehalten werden, um der unausweichlichen Zukunft, die man auch als Alltag bezeichnen könnte, zu entgehen.
Der Kaffee dampfte vor sich hin und ihr war überhaupt nicht mehr danach, auch nur einen Schluck von ihm zu kosten. Sie kannte den Geschmack. Viel lieber begann sie mit ihren Nasenflügeln den Dampf und den Geruch aufzunehmen, um den penetranten Burgergeruch des Hauses zu verdrängen.
Einfach nur hier sitzen und darauf hoffen, dass die Nacht nicht mehr enden würde. Wie schön wäre es, wenn es nur keinen Morgen mehr gäbe…
Im Augenwinkel nahm sie die Bedienung wahr, die kurz vor Ladenschluss noch einmal durchfegte. Die Tür öffnete sich und ein Mann kam herein. Er bestellte sich einen Kaffee und setzte sich an einem Tisch am Fenster. Sein Blick bohrte sich in die Dunkelheit der Straßen, während er blind den Kaffee umrührte.
Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, als er sich von den Fenstern losreißen und in dem Laden umherschauen konnte. Er lächelte ihr vertrauenserweckend zu und sie nickte einfach nur. Sofort erhob er sich und schritt auf ihren Tisch zu, bevor sie überhaupt realisieren konnte, dass er ihr Nicken als Zustimmung für ein gemeinsames Pläuschchen betrachtet hatte und sie sich rechtzeitig dagegen verwehren konnte.
Kaum saß er nun vor ihr, stellte er sich noch nicht einmal vor, sondern fragte sie, wieso sie um diese Zeit hier allein sitze und so trostlos aus dem Fenster blickte und weshalb sie den ganzen Abend ziellos umherirrte. In seiner Stimme lag eine gespielte Vertrautheit, als würde er die Begegnung mit einem alten Freund imitieren und gab seiner Stimme einen entsprechenden Unterton.
Auf seine Frage hin gab sie einfach keine Antwort und träumte wieder in ihren Kaffee. Die hübschen Blasen waren verschwunden und die Brühe blickte ihr weiterhin eifrig entgegen, als wollte sie, dass sie sie endlich trank, um wieder hinaus in die Nacht treten zu können.
Langsam runzelte sie die Stirn und nur schleppend schwebte noch einmal seine Frage durch ihren Kopf. Woher konnte er wissen, dass sie schon den ganzen Abend umherirrte. Zögernd hob sie ihren Kopf und die Augen wanderten über die ebene Tischfläche zu seinem Getränk, seinem Jackett und anschließend in sein Gesicht. Er grinste ganz offensichtlich verschmitzt vor sich hin. Es war offensichtlich, dass er sich dessen genau bewusst war, was er eben geäußert hatte. Ein kurzer Moment der Bedrohung tauchte in ihr auf, als sie sich fragte, ob er sie vielleicht schon seit Stunden verfolgt hatte, doch auch diese hielt ihrer Gleichgültigkeit nicht lange stand.
»Vermutlich irren Sie bereits seit Stunden umher und erhoffen eine endlose Weiterführung dieses Moments.«
Nach und nach sortierte sich ihr Denken ein wenig und sie blickte einmal nach rechts und dann wieder nach links, als suchte sie nach einem Ausweg, aber in Wirklichkeit war es nur eine Verlegenheitsgeste. Sie erhielt aber auch nicht genügend Antrieb, sich nun zu erheben und den Mann weiterreden zu lassen, ohne dass seine Worte weiterhin ihr Ohr erreichen konnten.
»Sind wir Menschen im Inneren unseres Körpers zu Einzelhaft verurteilt, lebenslang, ohne auch nur einen Moment der Befreiung zu erfahren?«, führte er seinen Monolog weiter. »Es gab in meinem Leben stets Momente, in denen ich eine andere Wahl hätte treffen können, aber mich doch für jene Variante entschied, die nicht immer das beste Ergebnis versprach. Doch sind all diese Momente, die in diesem Augenblick an meinem Geist vorbeitrudeln, nur Interpretationen meines Lebens? Woher will ich wissen, dass meine Entscheidungen und Taten fehlerhaft oder korrekt waren, wenn die Kriterien jene sind, die von einer Familie zur anderen traditionell weitergereicht wurden?«
Er rückte sich auf seinem Stuhl zurecht und schien seine Beine übereinanderzuschlagen. Sein rechter Ellenbogen fand auf dem kleinen Tisch platz, sein Ärmel saugte einige Tropfen irgendeiner Flüssigkeit begierig auf.
»Jede Entscheidung besitzt ihre eigene Konsequenz und persönlichen Verlauf. Meine bedeutendste Entscheidung war es vermutlich, nach einem Schlüssel zu suchen, der mir mein Innerstes offenbaren sollte, um mich selbst zu verstehen und um mich aus dieser lebenslangen Haft vorzeitig zu entlassen. Zumindest hatte ich es stets so betrachtet. Nichts anderes tobt nun auch in Ihrem Schädel, mit dem Sie mittlerweile, und vielleicht auch immer und immer wieder aufs Neue, erkannt haben, dass der Ursprung ihres Problems in Ihren Gedanken liegt. Niemals war es zuvor so offensichtlich, wenn doch nur schon viel früher jemand in Ihr Leben getreten wäre, um zu bestätigen, was Sie schon immer befürchtet aber nie zu Ende zu denken gewagt hatten.«
Sie schlug ebenfalls ihre Beine übereinander. Ihr halblanger Rock raschelte zaghaft, als er über das dunkle Nylon glitt.
»Es sind nur immer wieder unsere Gedanken, die uns begrenzen und uns mitteilen, wer wir zu sein und was wir zu tun haben. Wir können niemand anderen verantwortlich machen, für das, was auch immer geschehen sein mag. Das können Sie vielleicht jetzt in dem Zustand erkennen, in dem Sie sich gerade befinden. Solche Momente zeigen Ihnen, wo Sie stehen und wohin Ihr Leben führen wird.«
Ihre Augen füllten sich nun ein wenig mit Tränen. Seine Worte wurden sanft, aber auch bestimmend zu ihr getragen und spiegelten wider, was sie den ganzen Abend über realisieren musste. Kaum eine Sekunde schein sie in sich selbst Ruhe finden zu können, damit sie eine andere Handlung aufgreifen und verfolgen konnte. Es schien ihr so, als würde der Mann genau wissen, wie sie sich fühlte. Gleichzeitig jedoch kam es ihr so vor, als würden seine Worte in das eine Ohr eindringen und aus dem anderen wieder entweichen.
»Ich habe viele Jahre nach einem Weg gesucht, um dem zu entkommen und Sie können mir glauben, dass ich so gut wie alles versucht habe. Letzten Endes traf ich auf die eine oder andere Person, die ähnliche Begebenheiten erfahren hatte und meine Gefühle mit mir teilen konnte. Und dabei spreche ich nicht von einem Lebenspartner, wie es die meisten Menschen nun bestimmt annehmen würden, sondern nur von einer mitfühlenden Person, die gleiche Stimmungen erfuhr und mittlerweile erkannt hatte, worauf es in diesem Leben ankommt. So bildete sich eine kleine, verschworene Gruppe mit gleichen Absichten. Nun fehlte noch der Schlüssel, um das Tor zu öffnen.«
Einen Wimpernschlag lang rasten mehrere Bilder an ihr vorbei, in denen sie sich an einer Brücke stehen sah. Dann wieder Bilderfetzen, die einen Ausblick auf eine Tür richteten, die von Wichtigkeit erschien. Schwarzweiße Bilder, zitternd und ständig in Bewegung hoppelten sie durch die Sekunde und verwirrten ihr Bewusstsein auf chaotische Weise..
»Sie sollten Ihren Annahmen mehr vertrauen und das ablegen, was wir allesamt ablegen mussten, um den Schlüssel zu erkennen. Ohne diesen Schlüssel gab es keinen Fortschritt. Das war nun deutlich zu erkennen. Aus diesem Grund gab es nur auf diese Weise Klarheit über unsere Situation, über die Situation der ganzen Welt.
Doch was kümmert uns die Welt? Jeder ist sich selbst am nächsten und aus diesem Grund verliefen unsere Anstrengungen auch niemals über den Rand unserer Gemeinsamkeit. Wir hätten niemals zuvor eine solche Klarheit erfahren können, das kann ich Ihnen versichern. Sollten Sie diese nun erlangen, dann werden Sie verstehen, was es zu verstehen gilt. Andernfalls ist es vonnöten, dass Sie nun aufstehen und meinen Worten entfliehen.«
Er räusperte sich ein wenig und lockerte nun seine Sitzhaltung. Er blickte kurz zur Bedienung, die an der Kasse herumspielte und die Abrechnung einleitete. Mittlerweile hatte er seine Kappe verkehrt herum aufgesetzt und den Kittel abgelegt.
»Der Schlüssel wurde uns so offensichtlich, als wir auch das taten, was getan werden musste. Sie können sich unsere Überraschung nicht vorstellen. Schnell war die Suche nach dem Schlüssel abgeschlossen, wofür wir andernfalls schon allein unser ganzes Leben vergeudet hätten. Worüber wir uns zuvor bald die Köpfe eingeschlagen hatten, weil unterschiedliche Ansichten und Überzeugungen aufeinander trafen und trotz des besten Intellekts nur für noch mehr Verwirrung denn Klarheit sorgte, desto erlösender war der Moment für jeden, dies alles zu erkennen und gemeinsam das Gleiche zu begreifen. Es ist einem Vogelschwarm gleich, der kreuz und quer durch den Nebel fliegt und sich mit einem Mal formiert ausrichtet, wenn sich der Nebel lüftet, und in unglaublicher Geschwindigkeit in Richtung des ursprünglich gesetzten Ziels fliegt.«
Ihre Gedanken beschleunigten sich nun auf ein unerträgliches Maß und ein enormer Druck entstand in ihrem Kopf, dass sie glaubte, er würde jeden Moment wie eine Seifenblase zerplatzen.
Schleichend wurde ihre Gleichgültigkeit von der Befürchtung abgelöst, ihr Gehirn könnte sich mit einem gewaltigen Knall im ganzen Laden verteilen. Sie schaute dem Mann ins Gesicht und sah, wie er sich um ein Vielfaches verlangsamt hatte. Sein Haar wehte in einem sanften Wind, als würde ihr eine Zeitlupenaufnahme eines Portraitbildes gezeigt. Sein Lächeln durchdrang ihre Angst und sie fühlte eine seltsame Vertrautheit ob ihrer seltsamen Empfindung.
Nun entblätterten sich endlich seine Worte vor ihren Augen und sie erkannte mit aller Deutlichkeit seine direkte, aber auch grauenerregende Botschaft, die sämtliche Spekulationen ihres Lebens übertraf und eine Klarheit jenseits jeder Beschreibung schuf.
Sie wusste nun, der Moment war gekommen und sie brauchte sich nicht mehr zu erheben, um diesen Laden zu verlassen und sie musste sich nicht mehr darum sorgen, dass diese Nacht enden musste.