Zu den Göttern
(Ein Traum wird zu einer Kurzgeschichte)
[Dream to Reality]
Die folgende Kurzgeschichte existierte zuerst als ein Traum. Die Länge des Traumes bot sich daher an, daraus eine Kurzgeschichte zu verfassen. So wird Dream to Reality, d.h. ein Traum zu einem Bestandteil der Alltagswelt…
Mein Blick wanderte an den massiven, verzierten Steinsäulen entlang, die über zwanzig Meter nach oben ragten und das Kuppeldach stützen.
Eine bedrückende Stimmung hatte sich nun über die riesige Halle gelegt und eine Ansammlung von einigen hundert Menschen fand Platz auf alten Holzbänken. Die vielen Unterhaltungen verschmolzen zu einem lauten Gemurmel, das schwer auf den Ohren lag. Am heutigen Tage wurde wieder einmal das alljährliche Ritual vollzogen, bei der insgesamt zehn Personen ausgewählt wurden, die für wenige Augenblicke die Welt der Götter sehen durften, nur um danach wieder zurückzukehren und den anderen Schülern davon zu berichten.
Ich hatte viele Jahre in Einsamkeit meditiert und aus eigener Kraft gelernt, bis ich von diesem Kloster erfuhr. Sofort hatte ich mich auf den Weg gemacht und wurde nach einigen Herausforderungen, die man mir gestellt hatte, schnell aufgenommen.
Mittlerweile war ich sogar innerhalb der Hierarchie des Klosters aufgestiegen und besetzte nun eine höhere Position, die es mir erlaubte, mich jederzeit einem Ritual direkt oder indirekt anzuschließen. Es war somit nicht länger nötig, dass ich ausgewählt werden musste, da meine entwickelten Fähigkeiten dies selbstständig erkennen konnten. Bisher hatte ich noch nicht an diesem Ritual teilgenommen, aber hatte mich entsprechend vorbereitet und hoffte, dieses Mal dabei sein zu dürfen.
Plötzlich verstummte das dröhnende Rauschen des Geflüsters. Der Älteste trat vor die Menge und eröffnete das Ritual. Er trug einen langen Stab in seinen Händen, auf dem ein Kristall gepflanzt worden war. Mit diesem wies er in der Regel in die Menge und wählte eine Person nach der anderen aus. In der herrlichen Stille hörte man den Saum seines Umhangs, der über den Steinboden glitt. Die Menge war in zwei Hälften geteilt, denn auf beiden Seiten befanden sich die Bänke und in der Mitte verblieb ein Durchgang.
Der Älteste räusperte sich und begann mit der Einleitung:
»Meine Schwestern und Brüder! Wir haben uns hier versammelt, um zehn aus unserer Gemeinschaft auszuwählen, damit sie für einen Augenblick die Götter schauen können.«
Er hielt für einen Moment inne und man fühlte deutlich die Aufregung und Faszination, nicht nur, welche Ehre es war, ausgewählt zu werden, sondern auch, eine Bestätigung für all die Anstrengungen und das Wissen zu erlangen und einmal ins Antlitz der Götter blicken zu dürfen.
»Wer immer erwählt werden sollte, sei es durch meine Hand oder durch die eigene, mag hervortreten und in den heiligen Raum eintreten!«
Der heilige Raum! Er wurde peinlich sauber gehalten und man durfte ihn nur zur Dämmerung betreten und vor dem Altar nicht mehr als eine halbe Stunde meditieren. Für das Ritual wurde dieser Raum auf spezielle Art hergerichtet, denn er repräsentierte die Verbindung zu den Göttern, war das Bindeglied in die ferne Welt der Unsterblichkeit und Ewigkeit, in dem Raum und Zeit in sich zusammenbrechen und einen Blick in die Unendlichkeit zuließ. Am Tage des Rituals jedoch vereinten sich die Kräfte der Lehrmeister und beflügeln den fragenden Schüler, bis er kurz zu den Göttern aufschwebt und mit ihrem Wissen und ihren Strahlen durchflutet wird.
Nun riss er riss den Stab in die Höhe und rief:
»Magnus sensus!«
In diesem Augenblick begann der Kristall zu leuchten und funkelte in allen Farben, sodass ein Spektrallicht an die Decke geworfen wurde. Es wirkte ergreifend, auch wenn mittlerweile jeder zu wissen glaubte, dass dies durch einen raffinierten Trick möglich war.
Viele besaßen noch ihre Zweifel und aus keinem anderen Grund gab es dieses Ritual. Es sollte die Zweifel endgültig zerstreuen und ausräumen.
Für mich hingegen gab es keine Zweifel mehr. Mir kam es persönlich nur auf die ‚Große Wahrnehmung’ an, die die Beteiligung an diesem Ritual versprach und mich in einen Zustand bringen sollte, in dem ich den Götter und ihre Fähigkeiten begegne.
Der Älteste wählte einige aus, die sich erhoben und mit erhobenem Haupt – und unterdrückter Vorfreude – erhaben zum heiligen Raum gingen. Nach wenigen Minuten hatte er neun Personen ausgewählt. Unter ihnen befand sich auch Sophia, die mich nicht sonderlich mochte. Trotzdem hatten wir uns einige Male unterhalten und ihr gespaltenes Verhältnis zu mir kam ziemlich schnell zum Vorschein.
Nun sah ich, dass sich einige der Anwesenden ständig umdrehten und den Raum absuchten. Da verstand ich! Sie suchten die zehnte Person, denn der Älteste hatte den Stab heruntergenommen und schaute ebenfalls im Raum umher. In diesem Moment blickte ich schnell in meinen Geist hinein und erkannte, dass ich tatsächlich der Zehnte war, der dieses Jahr ebenfalls am Ritual teilnehmen sollte.
Schnell erhob ich mich und ging den anderen nach. Die Blicke einiger Freunde fing ich noch einmal ein und nickte ihnen lächelnd zu. Sie deuteten mir, dass sie sich für mich freuten und gespannt darauf waren, was ich ihnen später zu erzählen hätte. Sophia sah ich noch einige Meter vor mir. Sie drehte sich nicht um. Ich grinste diebisch in mich hinein, denn ich war überzeugt, dass wenn sie mich im heiligen Raum erblickt, glauben würde, ich hätte mich selbst nur deshalb ausgewählt, um sie zu ärgern.
Im heiligen Raum setzten wir uns vor den Altar. Der Älteste kam als Letzter herein und steckte seinen Stab in eine Öffnung, die sich auf der Oberfläche des Altartisches befand.
»Nun ist es an der Zeit, dass ihr die Götter schaut und die große Wahrnehmung erlangt. Ihr werdet das Reich der Götter für einige Sekunden oder Minuten wahrnehmen und könnt so das Wissen und die Sicherheit erlangen, die für euren weiteren Weg notwendig ist. Danach werdet ihr automatisch zurückkehren und euren Brüdern und Schwestern berichten können, was euch widerfuhr. Dankt den Göttern, wenn ihr sie erblickt und seid demütig ihr Gefäß, in das sie ihr Wissen füllen werden, um euch zu erleuchten.«
Wir nickten, um dem Ältesten zu signalisieren, dass wir bereit waren und ihn verstanden hatten. Danach verließ er den Altarbereich und den heiligen Raum, um uns allein zu lassen.
Ich wusste, dass er in einen Nebenraum ging, um uns in seiner Meditation, zusammen mit der Energie des Ältestenrates, zu unterstützen und uns den notwendigen Antrieb zu verschaffen, damit das Ritual seine Erfüllung fand.
Wir gingen in Meditation und irgendwann wurde es sehr hell vor meinen Augen. Ein warmes Licht breitete sich in mir aus und trug mich hinfort in einen Zustand, in dem ich keinen Körper mehr besaß und in welchem Zeit und Raum nicht länger existierten…
Als ich wieder zu mir kam, erkannte ich, dass ich in den heiligen Raum zurückgekehrt war. Deutlich konnte ich meinen Körper wieder fühlen und stand auf. Trotz des Dämmerlichts sah ich, dass ich mich allein in diesem Raum befand. Anscheinend waren die anderen bereits hinausgegangen und erzählten von ihren Erlebnissen. Es beschlich mich ein bedrohliches Gefühl, als ich den Raum verließ und in die Halle trat.
Mein Atem stockte! Es war niemand mehr hier! Das ganze Kloster schien wie leergefegt. Ich rannte nach draußen, aber auch dort konnte ich niemanden entdecken. Danach lief ich durch die vielen Gänge und Türen des Klosters, aber in dem ganzen Gebäude war niemand mehr zu entdecken. Ich war völlig allein!
Erschöpft setzte ich mich auf eine der vordersten Holzbänke und schaute in meinen Geist. Was war geschehen? Wieso war ich nur noch der einzige Mensch in diesem Kloster? In mir entdeckte ich ganz neue Elemente, frische Fähigkeiten, die ich plötzlich anwenden und über die ich frei verfügen durfte.
Diese Fähigkeit war in der Regel und gemäß den alten Schriften eine Kraft der Götter, welche nur ihnen zuteil werden konnte.
Ich verstand, dass ich mich nun von Raum und Zeit befreit hatte und konnte mich mit meinem puren Willen durch die unglaublichsten Realitäten bewegen, so als gehörten sie zu meinem Geist. Ein Gedanke reichte aus, um von der einen in die nächste Realität zu gehen.
Augenblicklich stand ich in einem Dschungel und eine wunderschöne, fremde Pflanzenwelt ließ meinen Atem stocken oder ich stand unvermittelt in einer Wüste oder auf einem Weg mit einem Blick in ein nahe gelegenes Dorf. Doch all diese faszinierenden Realitäten besaßen eine Gemeinsamkeit: es war nicht ein Mensch oder Tier zu erblicken! Ich war stets allein.
So suchte ich durch unzählige Realitäten springend nach einem Menschen oder einem Wesen, dass sich mit mir unterhalten oder mich darüber aufklären würde, was geschehen war. Ich suchte nach den Göttern, von denen ich stets gehört und die ich so oft herbeigesehnt hatte, aber ich wurde nicht fündig. Es war derart befremdlich, dass ich wie wild durch die verschiedensten Welten sprang, dass es mehrere Tausend gewesen sein mussten.
Doch wo immer ich auftauchte und welche Welt sich mir auch darbot, es war niemand da, mit dem ich diese Erfahrungen hätte teilen können… Nun erkannte ich langsam, dass es gar keine Götter gab. Der einzige Gott, der hier Welten erschaffen und beliebig aufsuchen konnte, war ich nun selbst. Ich lachte über den altmodischen Glauben, der vom Ältestenrat an die Schüler weitergegeben wurde.
‚Die Götter treffen’ und ‚Die Verbindung zu den Göttern erlangen’ entpuppte sich nun als ein transzendentaler Schritt meiner eigenen Evolution, nämlich zu begreifen und zu erkennen, dass ich in diesem Zustand mein eigener Gott und mein eigenes Schicksal war! Wie paradox und umständlich die alten Schriften ihr Wissen weiterzugeben versuchten, aber doch nur in Analogien und Metaphern berichten wollten, um dem aufgestiegenen Schüler nicht alles im Vornherein zu verraten oder ihm einen göttlichen Witz mit auf dem Weg zu geben, damit er mit der Einsamkeit leichter umgehen kann.
Wie konnten die Ahnen denn wissen, dass ihre göttlichen Witze von ihren Nachfolgern aus tiefstem Ernst heraus an die Schüler weitergegeben werden würden, vermutlich bis weit in die Zukunft hinein? Ich war nun jener, der dieses Wissen aktualisierte und lachte nicht über deren, sondern über meine Naivität, ihnen derart Glauben geschenkt zu haben.
Doch jenseits all dieser amüsanten Erkenntnisse machte sich nun wieder die Sorge in mir breit, dass ich vermutlich als allmächtiger, aber einsamer Gott in der Unendlichkeit enden werde. So suchte ich Ewigkeiten weiter, bis ich plötzlich am fernen Himmel etwas entdeckte. Ganz weit entfernt sah ich einen braunen Fleck am klaren Himmel einer Realität, in die ich hineingesprungen war.
Sofort zoomte ich zu diesem braunen Fleck am Himmel und je näher ich herankam, desto deutlicher wurde, dass es ein Tier war, ein einsamer Adler, der am Himmel seine Kreise zog. Ich weiß nicht, ob ich nun eine Welt entdeckt hatte, in der es vielleicht einen Menschen gab, dem ich begegnen konnte, oder einem anderen Schöpfer, der es ebenfalls geschafft hatte, das Reich der Götter zu betreten. Immer deutlicher wurde, was mit mir geschehen war und ich dachte ein letztes Mal an das Kloster und an den Beginn meiner Reise…
Derweil im Kloster.
Wochen später kamen drei Personen zum Kloster und verschafften sich gewaltsam Eintritt, als man versucht hatte, ihnen den Zugang zu verwehren. Sie traten vor den Ältesten und stellten ihn zur Rede. Der Älteste zögerte mit seiner Antwort, da er für einen Moment unsicher schien, ob er ihnen von den Tätigkeiten aus dem Kloster erzählen sollte.
In diesem Moment trat einer der Fremden vor und präsentierte sich in seiner unmenschlichen Gestalt. Er sah aus wie eine lehmfarbene Echse mit einem dicken, felllosen Schwanz, den sie nun gereizt und wild umherwirbelte, bis die Spitze auf den Steinboden schlug und eine Welle durch den Raum ging, die darauf hindeutete, dass sie die Kraft besaß, Materie für einen Sekundenbruchteil zu beeinflussen. Viele Schüler sprangen zurück und brachten sich in Sicherheit, doch der Älteste blieb unbeeindruckt stehen und hielt dem Blick der Furcht erregenden Echse stand und antwortete:
»In unserem Ritual sind zehn Auserwählte ins Reich der Götter gegangen, um sie zu schauen, doch es sind nur neun von ihnen zurückgekehrt. Es scheint, als hätten die Götter euren Freund nicht mehr gehen lassen wollen!«
Da verstanden die Fremden, entschuldigten sich für ihr Eindringen und verließen das Kloster, denn sie hatten erkannt, was wirklich geschehen war.