Die Fotografie
(Eine unheimliche Begegnung der Dritten Art?)
[Dream to Reality]
(Ein Traum wird zu einer Kurzgeschichte)
(Eine fantastische Geschichte von © Jonathan Dilas)
Es war ein lauer Frühlingswind, der mein Haar umspielte, als ich mit meiner Kamera bewaffnet auf dem hohen Hügel stand und eine optimale Aussicht suchte.
Gezielte Aufnahmen in der Natur sind ebenso reizvoll wie schnelle Schnappschüsse von vorbeiziehenden Menschen, die manches Mal misstrauisch in die Kamera blicken. Vermutlich hatte es sich jemand zur Aufgabe gemacht, genau damit zu spielen, ging mir in diesem Moment gerade den Kopf, als ich an eine neue Webseite dachte, die sich im Netz bekannt gemacht hatte. „You have been photographed secretly“ lautete sie und der Betreiber sammelte Fotos von Personen, die ohne ihr Wissen fotografiert wurden. Der Spaß an dieser Sache waren die vielen Schnappschüsse in oftmals normalen Alltags-, aber auch in seltenen oder witzigen Situationen.
Nicht nur entdeckte man betrunkene Personen mit torkelndem Gang, sondern auch andere Menschen, die sich für einen Moment unbeobachtet fühlten oder einfach nur auf einer Bank saßen und ein Mittagsschläfchen hielten. Die Möglichkeiten waren unerschöpflich und geradezu verlockend. Vielleicht, so sprang es mir in den Kopf, würde ich mich auch einmal beteiligen…
Sollte ich dazu jedoch ein Pseudonym benutzen, dachte ich weiter, denn ich meinte mich zu erinnern, dass es eigentlich nicht erlaubt ist, Menschen ohne ihr Wissen zu fotografieren. Wieso eigentlich? fragte ich mich und grübelte darüber nach, während ein anderer Teil in mir es wieder anzweifelte, dass es sich tatsächlich so verhielt.
Nun gut, sagte ich zu mir selbst, eigentlich ist es völlig gleichgültig, denn der Betreiber jener Webseite wollte jedenfalls anonym bleiben, so fiel mir wieder ein, denn sein Name wirkte mehr als zufällig und von Eltern gegeben.
Also spazierte ich einen langen Weg entlang, um mich langsam wieder an den Abstieg zu machen. Sobald ich an diesem schönen Sonntagnachmittag weitere Spaziergänger entdeckte, hielt ich einfach meine Kamera in den Pulk und drückte ab. Die Entfernung zu ihnen war zweitrangig, denn der digitale Fokus konnte das Foto entsprechend vergrößern. Nicht nur ein rüstiger Rentner mit seiner walkenden Gattin, sondern auch Kinder und Hunde hüpften ganz ungehemmt an meiner Linse vorbei. So manches Mal schien es mir sogar so, als wüssten sie ganz genau, dass ich sie heimlich fotografierte, denn hier oder da ein kurzer, misstrauischer Blick in die Kamera oder eine runzelnde Stirn an anderer Stelle mochten darauf hinweisen. Doch wie kurz mag ihnen der Gedanke erschienen sein, als dass sie ihn irgendwie großartig hätten realisieren oder reflektieren können.
Paparazzis nennt man jene, die Prominente heimlich fotografieren, doch wie nennt man jene, die unbekannte Menschen vor die Linse lockten? Dafür schien mir keine passende Bezeichnung einzufallen. Immerhin, so fiel mir spontan ein, werden wir tagtäglich gefilmt, auf Bahnhöfen, öffentlichen Plätzen, Mensas, an Urlaubsorten, auf Konzerten und vielen anderen Orten.
Ich hörte sogar von Webcams auf Toiletten und in Imbissen, ganz zu schweigen von all den Spionagesatelliten im All, die eine so hohe Auflösung besitzen, dass sie die Marke einer Zigarettenschachtel auf dem Asphalt einer beliebigen Straße mit Leichtigkeit bestimmen können. Wie auch immer sich der gläserne Mensch im Internet und im Daily Life entwickeln oder entsprechend bedrängt werden mochte, so war es an diesem Tage nur ein kleiner Test und eine spärliche Beigabe zu der erwähnten Webseite, weil ich deren Idee sehr amüsant fand, auch wenn ich selbst lieber keins ihrer vermutlich unbewussten „Opfer“ gewesen wäre.
Bestimmt hielt ich nicht inne, wenn sich ein anderes lohnenswertes Motiv vor die Linse drängelte, doch hie und da ein Wanderer, ein Pärchen, einige Kinder, ein Förster, eine einsame Frau, ein Mountainbike-Fahrer und andere Menschen, denen man auf diesem netten, kleinen Berg antreffen konnte.
Als ich wieder auf der Landstraße stand, ging ich langsam zu meinem Wagen zurück, der auf einem kleinen Waldparkplatz stand. Auf dem Weg ging ich in den Betrachtungsmodus und scrollte durch die Fotos, als mir etwas sehr Seltsames auffiel! Das Pärchen auf dem Foto, das ich vor vielleicht zwei Minuten gemacht hatte, war von grün-beiger Hautfarbe! Bestimmt war es ein Fehler im Chip, dachte ich, oder eine fehlerhafte Einstellung, während ich intuitiv den digitalen Fokus betätigte und das Foto schnell vergrößerte.
Das Foto entpuppte sich immer mehr zu einem seltsamen Schnappschuss der unglaublichsten Art, denn dieses Pärchen besaß nicht nur eine grün-beige Hautfarbe, sondern definitiv ein reptilienartiges Gesicht!
Das konnte nun wirklich kein Einstellungsfehler mehr gewesen sein und spontan machte ich auf dem Absatz kehrt und lief im schnellen Schritt zurück den Bergpfad hinauf. Nach einigen Minuten entdeckte ich wieder dieses Pärchen. Sie liefen nun gemächlich vor mir her und wanderten in Richtung eines sehr schmalen Waldweges, der sie in Kürze gewiss verschluckt hätte.
Plötzlich brach mir der Schweiß aus den Poren und lief an meiner Stirn herab. Irgendetwas stimmte hier nicht, dessen war ich mir sicher! Waren das etwa Außerirdische oder besaßen sie ein Gerät, das sie so erscheinen ließ? Langsam holte ich auf und konnte sie sogar vor dem Waldweg einholen.
Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen! Sie sahen völlig normal aus! Es waren ganz normale Menschen! In sicherer Entfernung posierte ich mich und machte noch schnell einen schnellen Schnappschuss, um mir gleich darauf das Ergebnis anzuschauen. Auf dem Foto sah ich erneut ein Pärchen mit grün-beiger Hautfarbe und einem auffälligen Gesicht eines echsenähnlichen Wesens, vielleicht das eines Leguans oder einer Wasseragame, mit gelblichen Flecken unterhalb ihres „Mundes“ anstelle der weißen.
Meine Augen bewegten sich unruhig hin und her, während meine Knie ein wenig weich wurden. Wie konnte es bei diesem Widerspruch zu einer solchen Fotoaufnahme kommen? Kurzum schlussfolgerte ich, dass nur eins der optischen Hilfsmittel die Realität nicht erfassen konnte: entweder die Kamera oder meine Augen. Wenn ich näher darüber nachdachte, hatte ich meine Augen sehr in Verdacht, da sie von einem subjektiven Wesen benutzt werden, das durchaus getäuscht werden kann.
Doch wie konnten diese beiden seltsamen Gestalten mir ein Bild vorgaukeln, das sie zu normalen Menschen machte? Vermutlich konnten sie meine Kamera deshalb nicht täuschen, weil es ein objektives Gerät ist. Somit würde sich logischerweise ergeben, dass sie auf irgendeine telepathische Art und Weise dazu imstande waren, meine Wahrnehmung zu beeinflussen.
Wenn man weiß, dass Mücken des Nachts das Blut der Menschen saugen, um damit ihre Nachkommen großzuziehen, kann man ihre Hinterhältigkeit gewiss einfacher verstehen und auch tolerieren, aber wenn sie dazu laut fiept und am eigenem Ohr vorbeischwebt, um auf der Wange zu landen und das ersehnte Blut von dort zu erhaschen, ist sie doch zu auffällig geworden und verdient es, entdeckt zu werden. Und in einem ähnlichen Zustand befand ich mich nun.
Nicht dass ich diesem Pärchen irgendetwas antun wollte, aber ich hatte ein Rätsel entdeckt und wollte mehr wissen! Ebenso wollte ich diesen Wahrnehmungsbann brechen, den sie mir auferlegt zu haben schienen und konzentrierte mich darauf, sie so wahrzunehmen, wie sie wirklich aussahen.
Plötzlich erkannte ich, dass etwas nicht mit ihrem Gang stimmte. Dann entdeckte ich, dass ihre Arme ein bisschen zu lang waren und immer mehr kristallisierte sich aus diesem harmlosen Pärchen das heraus, was sie wirklich zu sein schienen: nicht-menschliche Wesen mit dem Erscheinungsbild einer Echse!
Ich hatte eigentlich nie etwas gegen Echsen. Sie wirkten immer sehr ruhig und zufrieden. Sie machten mir keine Angst oder lösten Ekel in mir aus, eher wirkten sie beinahe sympathisch und erhaben, wenn sie mit hoch erhobenen Kopf in die unendliche Ferne schauten, obwohl ihr Blick bereits keinen Meter weiter an einer Terrariumwand enden mochte.
So unauffällig wie möglich ging ich ihnen nach, folgte ihnen auf diesem schmalen Waldweg, wenn auch mit Bedacht, da ich nicht darüber informiert war, wie derartige Echsenwesen mit neugierigen Menschen verfahren würden. Vielleicht wollte ich nur wissen, wohin sie gingen oder was ihr Ziel war. Es könnte sein, dass sie mehrere ihrer Art trafen oder ungesehen zu ihrem Raumschiff gelangen wollten, doch Spekulationen waren nicht die Nahrung, die meine Neugier jetzt zufrieden stellen konnte.
Während sich der Waldweg nun langsam in Unterholz verwandelte, blieb ich auf weitem Abstand, um keinesfalls aufzufallen. Ich erinnerte mich an all die Momente meiner Jugend, in denen ich es liebte, wie ein Indianer durch das Dickicht zu schleichen, ohne auf einen Ast zu treten oder gehört zu werden, und auch dieses Mal schien es mir zu gelingen.
Ich übte äußerste Vorsicht, denn meine Intuition warnte mich immer wieder, einen möglichst großen Abstand zu halten. Der weitere Weg führte uns zu einer kleinen Felsengruppe, die ziemlich langweilig und unauffällig die Umgebung zierte. Das Reptilienpärchen schien jedoch genau an dieser Felsengruppe Interesse zu besitzen.
Es waren bestimmt mehrere hundert Meter Entfernung, als der Moment kam, in dem sie sich umschauten, die Umgebung kontrollierten und dann darauf zu schritten. Es öffnete sich eine Art Tür im Gestein. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, aber sie gingen zügig durch diese Tür und waren im nächsten Augenblick verschwunden.
Das hatte ich erst einmal zu verarbeiten und ließ mich an dem dicken Baum, der mir hier als Versteck gedient hatte, zu Boden gleiten. Viele Fragen bestürmten meinen Verstand und forderten Aufklärung, während sich zur gleichen Zeit Sorgen in mir breit machten, die es darauf angelegt hatten, mich schleunigst von diesem Ort fortzuführen. So tobte der Kampf zwischen Neugier und Angst in mir und nach vielen Minuten der Diskussion erhob ich mich und spielte den zufälligen Wanderer, der mit einem Mal vor dieser obskuren Felsgruppe auftauchen würde.
Als ich dort ankam, bemerkte ich, dass mich nun eine unglaubliche Stille umgab. Für einen Moment wirkte es so, als würden sämtliche Tiere des Waldes diesen Ort meiden. Kein Zirpen, kein Summen oder Gesang, der mit meinen Gehörgängen schmuste, sondern nur eine bedrohliche Stille.
Langsam ging ich an den Felsen entlang und suchte eine Art Mechanismus, der vielleicht dieses Tor öffnen würde, aber ich konnte nichts entdecken. Immer wieder lief ich auf und ab, mit der Angst im Nacken, das Tor könnte sich jeden Augenblick öffnen und einige dieser Echsen kamen herausgesprungen und zerrten mich in ihre Höhle, während sich mein verzweifeltes Geschrei im Wald verlieren würde, ohne auch nur das Ohr irgendeines irritierten Wanderers zu erreichen. Vielleicht würden sie mich mit Haut und Haaren fressen, so wie Leguane in stundenlanger Arbeit eine Maus verschlucken und danach einen mehrstündigen Mittagsschlaf halten.
Es war nun auch schon recht spät und die meisten Ausflügler hatten sich auf den Heimweg gemacht, während ich mich hier in einer grotesken Situation wiederfand, in der ich einen versteckten Mechanismus in einer Felswand suchte, um ein Tor zu einer Höhle oder etwas Vergleichbaren zu enttarnen.
Plötzlich fiel mir eine Stelle auf der Felswand auf, die ein wenig dunkler schien. Das erinnerte mich an die Benutzung von hellen Küchenschränken, bei denen es um die Griffe herum schneller dunkler wurde als bei den anderen Flächen der Schranktür. Vermutlich war hier der Mechanismus verborgen und durch ein häufiges Drücken beschmutzt worden. Also ging ich langsam zu dieser Stelle und legte meine Hand darauf.
Plötzlich öffnete sich tatsächlich die Tür, genau so, wie sie es eben bei dem Pärchen getan hatte. Mit weit geöffnetem Mund und vorsichtigen Schritten ging ich auf die Tür zu und starrte in die Dunkelheit. Meter für Meter wagte ich mich in diese Tür hinein und plötzlich fiel sie hinter mir zu und ich stand für einen Augenblick in völliger Dunkelheit.
Ein surrendes Geräusch war nun zu hören und mein Magen drehte sich, was mir als Anzeichen dafür galt, dass mein Körper in einer sehr schnellen Geschwindigkeit fortbewegt wurde… Das war es! Ich befand mich in einem Fahrstuhl!
Nun war der Moment gekommen. Es gab kein Zurück mehr!
Diese Erkenntnis traf mich mit aller Wucht und ich zitterte am ganzen Körper. Vermutlich würden diese Echsen bereits dort unten auf mich warten und mich gebührend in Empfang nehmen, indem sie mich in der Mitte zerteilten und jeder eine Hälfte zum Abendessen erhalten würde, das fein ausgeblutet über ein Feuer gehalten wurde…
Doch waren sie wirklich so primitiv, wenn sie doch über einen Fahrstuhl, versteckte Mechanismen in Felswänden besaßen sowie Täuschungstricks beherrschten, die mir weismachen konnten, sie gehören der gleichen Spezies wie ich an.
Man mag vielleicht vermuten, dass es umso dunkler wurde, je tiefer der Fahrstuhl mich trug, doch das Gegenteil war der Fall: es wurde langsam heller in meinem kleinen Raum und ich konnte an der Tür ein Symbol erkennen. Es sah aus, wie ein Drache, der sich um etwas schlang. Vielleicht ein religiöses Symbol, dachte ich für einen Moment. Es erinnerte mich ein wenig an eins dieser Zeichen irgendeiner Bruderschaft oder das von Rollenspielern, die kürzlich ein Emblem für ihre Spielgruppe entworfen hatten.
Der Fahrstuhl blieb stehen…
Mein Herz pochte mir bis zum Hals und ich glaubte, dass sich mein gesamter Blutvorrat mittlerweile in meinem Kopf befand. Die Tür öffnete sich und was sich mir dann bot, überstieg meine kühnsten Erwartungen. Mit einigen Schritten verließ ich diesen seltsamen Lift und trat auf einen riesigen Platz, der eine kuppelartige Decke von vielleicht dreißig Metern Höhe aufwies und das Symbol von der Fahrstuhltür verblasst, aber in einem gigantischem Ausmaß trug. Neben mir waren sogar Geländer, an denen man sich festhalten konnte sowie Metallfußwege, die ich benutzen konnte. Auf den ersten Blick schien es wie eine kleine magische Welt, doch dann wieder wie eine Science-Fiction-Welt, die ich entdeckt zu haben schien und all dies nur wegen einer kleinen, seltsamen Fotografie.
»Befinde ich mich hier in einem Traum« ging mir durch den Kopf, »oder führt man mich gerade ganz gewaltig an der Nase herum?«
Doch all diese Fragen waren keine Rechtfertigung für die Existenz einer so gigantischen Halle, durch die ich staunend und mit weit geöffneten Augen, um all die neuen Eindrücke in mich aufzusagen, lief, ohne wirklich zu wissen, wohin mich dieser metallische Weg führen mochte.
Am Ende des Weges sah ich eine weitere Tür, die sich nun von allein öffnete und im nächsten Augenblick blickte ich in die Gesichter zweier Reptilien, die ungefähr die Größe von 1,70 m oder 1,75 m aufwiesen.
Sofort begannen sie zu zischen und fuchtelten mit einem silbernen Stab herum, den sie mit sich trugen und ich sprang mit einem gewaltigen Satz nach hinten, da es für mich so wirkte, als wollten sie mich attackieren. Natürlich wusste ich nicht, wie kräftig solche ausgewachsenen Echsen sein mochten, aber sie waren in jedem Fall intelligent, das war deutlich geworden. Sie waren sogar intelligent genug, sich so geschickt vor den Menschen zu tarnen.
»Wer… wer seid ihr?« fragte ich laut und hoffte gleichzeitig, dass sie mich verstanden und sich ebenso für ein nettes Gespräch begeistern ließen.
Sie zischten wieder und im nächsten Moment tauchte eine weitere Echse auf, für die die anderen beiden Platz machten. Sie trat vor und schaute tief in mich hinein. Ich hatte das Gefühl, als konnte sie auf eine telepathische Art und Weise meinen Verstand durchleuchten und nach allem Ausschau halten, was sie dort vorfinden wollte. Mein Blick wanderte dabei an ihr entlang und ich meinte, einen weiblichen Brustansatz zu erkennen.
»Was machst du da?«, fragte ich verunsichert.
»Es tut mir leid«, antwortete sie, »aber du bist es, der in unser Reich eingedrungen ist. Wir werden dich dafür höchstwahrscheinlich töten müssen. Das musst du nicht persönlich nehmen, denn wir wollen weiterhin unerkannt bleiben und können uns nicht erlauben, dass unser heiliger Ort entdeckt wird.«
Ihre Stimme klang völlig normal und ohne irgendeinen Akzent. Es schien so, als würde sie unsere Sprache sehr gut beherrschen oder war vermutlich damit aufgewachsen.
Bei den anderen beiden Echsen war ich mir nun nicht mehr sicher, ob sie meine Sprache verstanden. Ich war auf jeden Fall froh, dass diese Echsenfrau nun erschienen war, auch wenn mich das, was sie von sich gegeben hatte, nicht beruhigte.
Ich hatte mit einer solchen Bemerkung beinahe gerechnet und ich entschied mich dazu, mit offenen Karten zu spielen.
»Meine Neugier war stärker als die Angst vor dem Tod. Darum bin ich einem Pärchen gefolgt, das ich versehentlich fotografiert hatte. Sie haben mich hierher geführt.«
Sie schaute mich an und schien ihre Nasenflügel bewegten sich. Für einen Moment kam mir der wahnwitzige Gedanke, sie roch, ob ich die Wahrheit gesagt hatte oder nicht.
»Du bist sehr offen. Doch leider wird dir deine Neugier dieses Mal den Tod bescheren. Selbst wenn ich es mir anders überlegen würde, aus welchem Grund auch immer, so könnte ich es allein nicht entscheiden.«, sagte sie und lauerte auf meine Reaktion.
»Das kann ich verstehen. Jedenfalls war es mir das wert und es ist eins der spannendsten Abenteuer meines Lebens. Das könnt ihr mir glauben. Doch wie werde ich sterben?«
Natürlich war ich unruhig und hatte gehofft, ein Abenteuer zu erleben und danach zurückkehren und Freunden davon erzählen zu können, aber ich wusste von Anfang an, dass es auch eine Gefahr in sich barg, diesem seltsamen Pärchen zu folgen. Vielleicht war es nun an der Zeit, für diese Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen und dem Tod ins Auge zu blicken, wenn er mich denn nun hier ereilen sollte. Also schaute ich in ihre Echsenaugen und nickte bestätigend.
»Wie werde ich sterben?«, fragte ich.
»Wir wissen es noch nicht. Vermutlich werden wir dich in einen Raum schicken, in dem du sehr schnell sterben wirst. Du brauchst dir keine Sorgen machen, wir essen keine Menschen. Hast du noch einen letzten Wunsch?«
»Darf ich noch ein wenig eure Welt kennenlernen? Ich meine, wenn ihr mich töten werdet, dann möchte ich dieses Abenteuer wenigstens ohne den unerträglichen Durst meiner Neugier zu Ende führen. Ich werde euch später bestimmt nicht verraten können.«
Sie schaute mich an. Dann lächelte sie ein wenig und nickte. »Ich glaube, niemand wird etwas dagegen haben. Folge mir!«
Ich ging schnell hinter ihr her, während sie den anderen beiden Echsen kurze Laute zuzischte und sie sich nickend zur Seite stellten.
Wir gingen durch eine große Tür und es folgte ein schmaler Raum mit einem weiteren Metallsteg zu einer anderen Tür. Einige Schritte weiter schlug mir eine recht warme und feuchte Luft entgegen. Im Anschluss folgte eine sehr große Tür, die sich langsam öffnete und was ich dann sah, raubte mir abermals den Atem.
Wieder eine gewaltige Deckenhöhe und nun erblickte ich eine große Anzahl von Pflanzen. Viele dieser Pflanzen kannte ich gar nicht. Eine fiel mir besonders auf. Sie besaß sehr große Blätter, ovalförmig und schmal. An ihrem Stängel befanden sich mehrere silberfarbene Ranken. Ich konnte mir nicht erklären, wie eine Pflanze diese Farbe erzeugen könnte.
Langsam ging ich zu ihr und streichelte sie langsam. Gewiss empfand ich diese Pflanze als wunderschön. Besonders wenn der Tod so nahe bei einem war, verschönerte er das Leben und die Wahrnehmung um ein Vielfaches und aus diesem Grund war ich von meinen eigenen Gefühlen ergriffen, als ich sie berührte. Sie wirkte so lebendig und wenn sie auch ein wenig künstlich wirkte, konnte ich deutlich fühlen, dass sie lebte.
Meine Finger glitten über ihre Silberfäden und den grünlichen Stängel, während ihre fein gezeichneten und weiblich geformten Blätter zu vibrieren begannen. Nur schwer konnte ich mich von dieser Fauna losreißen, die mein Auge so erfreute. Ich erhob mich und stellte mich wieder zu der Echsenfrau.
»Dort vorn sind noch viel mehr…«, meinte sie und wir gingen zu einem Platz, der mit großen Pflastersteinen ausgelegt war.
Nun standen wir in einer Art Steinkreis. Am Boden waren große Steine eingelassen und gleichzeitig erhoben sich einige von ihnen und ergaben einen großen Dreiviertelkreis. In dem Moment, als ich den Kreis betreten hatte, fühlte ich mich sehr frisch und angenehm. Es schien, als belebte er mich und ein Kribbeln fuhr durch meinen Körper.
Wenige Augenblicke später überschwemmte mich eine Flut an Gefühlen… Tränen stiegen mir in die Augen und ich blickte die Echsenfrau an. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, sie lächelte. Mein Blick glitt zum Steinboden. Auf ihm waren nun seltsame Symbole zu erkennen, die mir zuvor vermutlich entgangen waren.
Die unermessliche Traurigkeit, welche in mir hochgestiegen war, ließ mich ungehemmt weinen und die Tränen liefen an meiner Wange herunter, während ich zur gleichen Zeit mit dem Gedanken spielte, mich hinzusetzen, um diesen Druck auszuhalten, der nun in mir in aller Deutlichkeit zu spüren war.
Plötzlich veränderte sich das Gefühl und ich erinnerte mich mit einem Mal an einem Moment aus meiner Kindheit, in dem ich nachts allein in meinem Bett lag und jemanden zu Hilfe rufen wollte, während ich kein Wort aus mir herausbringen konnte. Meine Stimme krächzte und mehr als ein Flüstern war mir nicht möglich gewesen. Hinzu gesellte sich eine starke Angst, die mir Glauben machte, dass das Schlafzimmer mit Dämonen angefüllt sei, nur gekommen, meinen Körper und mich zu entführen…
Diese starken Gefühle überrannten mich förmlich und ich musste unter ihrem Druck aus dem Kreis heraustreten. Torkelnd ging ich auf die Kreisöffnung zu und als ich ihn verließ, wurde es sofort erträglicher.
»Was war denn das?«, fragte ich, sobald ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.
»Der Kreis konzentriert deine psychische Energie.«
»Aber dieser Effekt ist unglaublich. Wie konnte das geschehen? Ich meine, kaum hatte ich den kreis betreten, schossen die Gefühle in mir hoch, als seien sie stets unter der Oberfläche gewesen und hatten nur darauf gewartet hervorzukommen. Es war wie ein Filter, der heruntergenommen wurde, oder wie ein Staudamm, der plötzlich geöffnet wird…«
Nun hatte ich mich wieder gut erholt und erlangte einen Zustand, der mich einiges über mich selbst erkennen ließ. Mit der flachen Hand schlug ich mir vor die Stirn und konnte nur noch mit dem Kopf schütteln. Es war tatsächlich noch alles so, wie ich es zu Kindeszeiten erlebt und gesehen hatte. Ich erkannte, dass der menschliche Körper zwar um einiges altern kann, aber die ihm innewohnende Psyche bleibt Kind.
Mit sanft nickendem Kopf und einem resignierenden Lächeln wagte ich es, mich auf den äußeren Steinkreisrand zu setzen. Sie setzte sich neben mich und wir schauten einigen kleineren Echsen zu, die gerade aus einer der Türen gelaufen kamen und miteinander zu spielen schienen.
»Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach sein kann, die Welt zu verstehen, wenn man nur einen Anstoß bekommt.«
»Genau das ist unsere große Kritik an euch Menschen. Ihr entwickelt euch nur sehr langsam und besonders im spirituellen Sinne kümmert es euch nicht, was aus euch wird. Ihr erforscht vielleicht die Welt mit der Absicht euch wirtschaftlich zu entwickeln, doch innerlich geschieht nicht viel mit euch. Ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, dass in euch noch viel mehr wohnt, als ihr jemals zu wagen glaubt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ihr noch nicht einmal an die Existenz anderer intelligenten Spezies glaubt. Ihr seid so arrogant, dass ihr glaubt, dass nur ihr in einem Universum existiert, dass Milliarden und Abermilliarden von Sonnensystemen besitzt, von denen fast jedes einen Planeten besitzt, der sich innerhalb einer Ökosphäre besitzt. Und dem nicht genug, ihr glaubt sogar, dass eure Realität und eure drei bis vier Dimensionen, die ihr erforscht habt, euch nur einen Mikro- oder Makrokosmos bescheren kann, aber nicht, dass es Milliarden psychischer und auch physischer Welten gibt, die zur gleichen Zeit, oder in einer anderen Zeit, neben euch existieren und durchaus zugänglich sind. Doch seht ihr weder die Hinweise noch die Tore, die euch darauf hinweisen wollen, dass ihr alles andere seid, außer einer vereinsamten Spezies mit einigen Tieren, die weit unter eurer Intelligenz stehen. Erhaltet ihr Wissen aus Büchern, bildet ihr euch ein, mehr zu wissen als andere. Überhaupt glaubt ihr, dass ihr die einzige Intelligenz seid und wollt wissenschaftlich belegen, dass eure Existenz einem geologischen und biologischen Zufall zu verdanken ist, der alle Trilliarden Jahre vielleicht einmal vorkommt. Vielleicht erkennst du jetzt, dass es in diesem Zustand, in dem du nun bist, überhaupt kein Wort existiert, welches Maß an Arroganz eurer Spezies anhaftet. Ich kenne den Zustand sehr gut, in dem du nun bist. Ich habe dort jedenfalls kein Wort dafür gefunden. Viele von uns glauben daher nicht an die Naivität eurer Spezies, sondern nur noch an ihre Arroganz.«
Ich nickte. All das, was sie von sich gab, entsprach genau meinen Gefühlen, die ich noch immer recht deutlich empfinden konnte, aber eine gewisse Distanz zu ihnen besaß, als sei ich aus ihnen herausgetreten.
»Die Energie hat deine Gefühle aktiviert, weil du durch sie hindurchgehen musst, um deine Wahrnehmung zu modifizieren. Dies würde wieder geschehen, falls du erneut in diesen Kreis trittst.«
»Wie kann das einfach so in mir aufsteigen, ohne dass ich etwas dagegen tun kann?«, fragte ich nach, um meine Überraschung, die noch immer anhielt, ein wenig zu lindern.
»Dieser Kreis hat eine ähnliche Wirkung wie eine Droge, nur dass dieser Kreis gezielter und spezifischer vorgeht. Ihr besitzt ebenso auf der Oberfläche diese Kreise. Genau über diesem hier befindet sich einer, den ihr nur finden müsstet. Doch die meisten Menschen würden vermutlich zusehen, dass sie weiterkommen, falls sei ihn versehentlich durchschreiten würden, denn solche Kreise planen Konfrontation. Sie sind wie intelligente Strömungen, die genau wissen, wo sie in der Psyche eines jeden Lebewesens ansetzen müssen.«
Ich lauschte ihren Worten und konnte jedes einzelne von ihnen nicht nur hören, sondern direkt empfinden.
Dies machte einen großen Unterschied zum normalen Alltagszustand aus, in dem man sich ziemlich unberührt fühlt, wenn nichts Besonderes vorfällt. Ich begriff, je mehr sie sprach, dass wir Menschen tatsächlich eine große Lücke in unserem Inneren klaffen ließen, die wir nicht ausfüllten und schon seit vielen tausend Jahren existierte und umso größer wurde, je mehr wir uns der Industrialisierung widmeten und alles andere außer acht ließen, angefangen bei Tier und Natur.
Ich drehte mich noch einmal zum Kreis und wollte nach den Symbolen sehen. Sie waren verschwunden. Sofort drehte ich mich zu ihr und fragte, wo sie geblieben seien.
»Es gibt Dinge, die ihr nicht sehen könnt, weil ihr für gewöhnlich nicht im entsprechenden Zustand seid. Gerade eben ist die Energie, die unter deiner Oberfläche schlummert, aktiviert worden und aufgebrochen. Dies hat dir die Möglichkeit gegeben, Dinge zu sehen, die du sonst niemals entdeckt hättest. Es ist vergleichbar mit eurer Entdeckung der Fluggeräte. Ihr konntet plötzlich die Welt von oben sehen und habt plötzlich Dinge gesehen, die euch zuvor entgangen waren. Genau dieses hast du nun in dir zugelassen. Dieses Zulassen verändert dich für immer. So gut wie niemand schafft es, durch die Emotionen zu gehen, um den nächsten Zustand zu erreichen. Doch wird es nun an der Zeit weiterzugehen.«
»Wohin?«
»Zum Ausgang, damit du uns wieder verlassen kannst.«
»Aber ich dachte, ihr würdet mich töten.«
»Nein«, entgegnete sie, »du hast bewiesen, dass du offen bist für deine innere Entwicklung und somit ergibt sich, dass du unseren Standort niemals verraten würdest. Aus dem Grund können wir dich gehen lassen.«
Langsam glitt ich wieder in einen normalen Zustand und so kehrten wieder die Erinnerungen an meine aufregende Fahrstuhlfahrt, die Begegnung mit den Echsenwesen und die kleine Sightseeing-Tour mit der freundlichen, weiblichen Echse ein. In diesem anderen Zustand waren all diese Dinge zweitrangig, selbst der Gedanke an meinen bevorstehenden Tod.
Es schien mir so, dass ich absichtlich wieder in den normalen Zustand zurückkehrte, um ihre Worte auch wirklich verstehen zu können. Nur in diesem gewohnten Zustand wusste ich ihre Worte zu schätzen, da sie nun einen Punkt betrafen, der eben mein physisches leben betraf und nicht meine innerpsychische Entwicklung. Nicht dass sie in einem Widerspruch zueinander standen, aber sie besaßen eine andere Orientierung.
So schlenderten wir den Weg langsam zurück zum Fahrstuhl.
»Werden wir uns wieder sehen?«, fragte ich sie, während ich sie noch einmal gründlich musterte und zugeben musste, dass ich mich an ihr Erscheinungsbild noch immer nicht gewöhnt hatte. Einige ihrer Schuppen reflektierten sogar das künstliche Licht in der Höhle.
»Wir werden sehen…«
Mit diesen Worten entließ sie mich in den dunklen Fahrstuhl und abermals drehte sich mein Magen um die eigene Achse, bis ich kurz darauf wieder im Freien stand.
Es war eine wundervolle, milde Nacht, die mir entgegenblickte und ich ging mit großer Zuversicht durch einen dunklen Wald, der mich so wundervoll ängstigte und entrückte.