Emily die Traumwandlerin
Teil 2
Eine Fantasy Geschichte von Jonathan Dilas in mehreren Teilen
Langsam spannte die Hexe Arnaka ihren Bogen. Die Sehne knackte leicht, als sie sie bis zu ihrer Wange zog. Über die Pfeilspitze hinaus sah sie die Umrisse von Emily und Eric, wie sie im Gras saßen und sich unterhielten. Sie visierte gut und war gewillt, die Sehne im geeignetsten Moment loszulassen, damit sich der Pfeil auf seine unheilvolle Reise begab…
„Ich hasse dich!“, flüsterte Emily. „Ich hasse dich! Und diese Hexe und die Königin hasse ich irgendwo auch!“
„Jemand der hasst, hat keinen Humor… und erkennt sich nicht selbst. Wenn man einen Menschen hasst, dann ist es eigentlich Liebe, die man empfindet, nur man betrachtet die Dinge aus negativer Sicht, man versteht die Vorgänge nicht. Wenn du unbedingt meinst, hassen zu müssen, dann nutze die Verachtung. Das bedeutet, dass man den anderen nicht einmal mehr mit einer einzigen Silbe erwähnt, die Person dann schlichtweg vergisst und sie nicht mehr beachtet, komme was wolle, aber dein Hass ist getarnte Liebe, erschaffen aus verletzter Eitelkeit. Überprüfe dich selbst! Frage dich, wen du mehr hasst! Die Hexe oder mich?“
„Die Hexe natürlich!“, rief Emily laut aus. Doch im Inneren musste sie sich eingestehen, dass ihre Gefühle bei Eric stärker reagierten trotz der Tatsache, dass die Bedrohung durch die Hexe um ein Vielfaches begründeter wäre.
„Gewiss ist dein Hass auf mich stärker. Es gibt jedoch, rein logisch betrachtet, wesentlich mehr Gründe, die Hexe zu hassen, denn sie wollte deine Eltern und uns beide töten. Verstehe, du hingegen hast nur einen Mantel über deine Gefühle gelegt, weil du dich verletzt fühlst, da ich dir gesagt hatte, ich bräuchte dich, um meine Tochter zu befreien. Du hattest mir vertraut und ich habe dein Vertrauen ausgenutzt. Es gibt jedoch wichtigere Dinge als dein Eigendünkel und dein Ego, denn wenn der Tod über uns kommt, dann wird alles unwichtig! Dann ist Hass, Verrat, Angst, Rache und alles Negative nur noch Schall und Rauch, denn der Tod macht alles gleichwertig und nimmt alles. Hass ist keine Lösung, damit schenkst du der Person, die deinen Hass empfängt, nur deine Energie und das mit jeder einzelnen Silbe, die du an sie verschwendest und nimmst dir damit gleichzeitig selbst die Kraft, die du brauchst.“
„Na toll!“, entgegnete Emily. „Welche Kraft denn?“
„Die unermessliche Energie in dir, die nur darauf wartet, von dir entdeckt zu werden und mit der du dein Schicksal selbst bestimmen kannst. Solange du jedoch hasst, so gibst du dich der dunklen Seite der Macht hin. Schlicht und einfach gesagt, du verschwendest deine Energie an mich, indem du mich hasst. Du machst mich damit zu dem, der über dein Leben bestimmen kann, weil der ‚Täter‘, in deinem Kopf, zum großen Bösewicht erkoren, derjenige ist, der das Schicksal regiert. Immerhin schenkst du mir die Macht und verschenkte Macht ist Ohn-macht. Denk einmal darüber nach“, erklärte Eric und fuhr gleich weiter fort: „Du kannst mich jedoch hassen, solange du willst. Mir soll es gleich sein. Wichtig ist nur, dass wir das Ziel erreichen. Wenn wir die Hexe besiegen, dann retten wir die Königin von ihrem Einfluss. Dann erst bist du die Trolle los und deine Eltern und du sind für immer in Sicherheit. Du kannst danach wieder nach Hause gehen und dein altes Leben aufnehmen“, erklärte Eric.
Emily schaute noch immer nachdenklich zu Boden: „Willst du sagen, dass die Entscheidung immer bei mir liegt, gleich, was ich tue?“
„Gut erkannt. Jeder Mensch hat seinen freien Willen. Wer sich über seinen Hass erhebt, gewinnt gegen die dunkle Seite in sich selbst und beginnt, sein Schicksal zu regieren. Es gibt keine andere Regel und dies ist einer der größten Herausforderungen, der sich ein jeder irgendwann einmal stellen muss. Du kannst stets entscheiden, was du willst. Wenn du gehen willst, dann geh in Frieden, wenn du mir jedoch helfen willst, diese große Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zu lösen, dann hilf mir, in die Träume der Königin einzudringen und ihr Band zu Arnaka zu durchtrennen. Die Königin wird sich von der dunklen Seite abkehren und sich wieder darauf besinnen, wer sie wirklich ist und dass sie diese wunderschöne Welt hier mit positiver Energie anführt. Wir können folglich diese Welt von ihrem schlechten Einfluss befreien. Doch eine Garantie, dass alles glücklich enden wird, kann dir niemand geben. Entweder wir schaffen es oder wir werden untergehen.“
„Und was ist, wenn ich mich nun dagegen entscheiden würde, dir mit der Königin zu helfen?“, fragte Emily weiter.
„Dann werde ich aus deinem Leben verschwinden, als hätte es mich nie gegeben. Du musst nur aufrichtig sagen, was du willst und ich werde entsprechend handeln. Das Universum ist so aufgebaut, dass man seinen Wunsch laut ausspricht. Sag, was du willst und so wird es geschehen!“
Nervös spielte Emily mit ihrem Zeigefinger im Gras herum. Ab und zu blickte sie zum Himmel auf, als wartete sie auf Regen, aber der Himmel blieb klar.
„Du musst verstehen, dass mich das alles sehr verunsichert. Ich werde nie mit absoluter Sicherheit sagen können, woran ich bei dir bin. Das macht mir schwer zu schaffen. Du könntest mein bester Freund sein, aber du könntest mich auch plötzlich verraten und mich ganz einfach der Hexe übergeben. Woher soll ich es wissen? Das macht mich fertig!“
„Du wirst es niemals wirklich wissen! Finde dich damit ab! Ich kann dir nichts beweisen. Du kannst es nur dir selbst beweisen oder dich für eine Perspektive entscheiden und dann fest daran glauben. So ist es mit allen Entscheidungen in dieser Welt. Es gibt keinen absoluten Beweis für irgendwas. Du kannst nicht einmal wirklich sagen, ob du selbst tatsächlich existierst. Sieh dich um! Du kannst mich sehen und erkennen, dass ich Augen habe, einen Körper besitze und ich hier mit dir in dieser seltsamen Welt auf einer Wiese sitze, aber du kannst deine eigenen Augen nicht sehen. Ebenso kannst du nicht dein Selbst sehen, das scheinbar in deinem Körper steckt. Es ist unsichtbar für dich. Wie willst du folglich beweisen, dass es dich wirklich gibt? Es ist darum gleichgültig, was ich dir zu beweisen versuche, du wirst letzten Endes entscheiden, was wahr ist und was nicht. Ob deine Entscheidung nun tatsächlich der Wahrheit entspricht oder nicht, wirst du niemals wissen. Das ist auch ein Grund, warum es vielen Menschen schwer fällt, sich zu entscheiden. Sie wissen intuitiv, dass ihr Wissen nur auf Glauben beruht und auf irgendeine Entscheidung hinauslaufen wird, die der möglichen Wahrheit entsprechen könnte“, fuhr Eric fort.
„Was bleibt mir dann, außer meinem Hass?“, wollte Emily nun wissen.
„Jede Erkenntnis, die jemand unter Tränen macht, ist nutzlos und ohne Wert. Ausschließlich die Erkenntnis unter Gelächter ist der Weg zu Dir selbst. Und wenn es dir nicht gelingt, dich über dich selbst zu erheben, dann kann dir nur noch der Tod helfen.“
„Der Tod!“, rief Emily erstaunt aus.
„Richtig. Wenn der Tod auf die Bühne deines persönlichen Lebens tritt, befreit er dich von all deinen unnützen Problemen, denn seine Anwesenheit ist unter euch Menschen allmächtig. Er wird dich von deinem Hass und all deinen fehlgeleiteten Gedanken befreien, denn er weiß von seinem Wert, während der Mensch es nicht weiß.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen!“, entgegnete Emily nachdenklich und schaute hinüber zum Waldrand. Langsam langweilten sie seine Worte, denn sie konnte nicht wirklich viel damit anfangen. Viel lieber wäre es ihr gewesen, wenn sie das alles bereits hinter sich und sie wieder nach Hause in ihre vertraute Umgebung hätte gehen können.
Plötzlich vernahm Emily ein Surren in der Luft. Instinktiv zog sie ihren Kopf ein und im nächsten Augenblick erblickte sie, wie Eric in einer unglaublichen Geschwindigkeit einen schnellen Schritt zur Seite getreten war. Dabei streckte er zur gleichen Zeit seine Hand aus und umfasste im nächsten Moment einen Pfeil, der in gerader Linie auf die beiden zugerast war. Sicher hielt er den Pfeil in seiner Hand, doch Emily konnte erkennen, dass Blut aus seiner Hand tropfte. Vermutlich hatte die Pfeilspitze seine Handfläche verletzt.
Ängstlich legte sich Emily nun ganz flach am Boden, während sich Eric kurzerhand neben sie warf.
„Die Hexe ist in der Nähe! Sie hat einen Bogen benutzt und wollte dich töten!“, flüsterte Eric. „Sie ist hier!“
„Ich glaub‘s nicht! Sie schießt mit Pfeilen nach uns!“, zischte Emily verstört.
„Das hast du gut erkannt.“
„Und was machen wir jetzt? Wenn ich aufstehe, dann steckt mir gleich ein Pfeil im Kopf!“
Doch in dem Moment antwortete Eric nicht mehr. Seine Augen fielen zu und er sackte in sich zusammen.
„Eric?“, rief Emily. „Eriiiiic!“
*
Arnaka senkte ihren Bogen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Neben ihr stand ein riesiger, schwarzer Wolf aus dessen riesiges Maul der Sabber geiferte, als würde er nur auf ein Wort von ihr warten, um sich auf Emily und Eric zu stürzen.
„Ruhig, mein Lieber“, sagte sie leise zum Wolf. „Niemand soll denken, ich wäre ein gefühlskalter Mensch. Einen weiteren, vergifteten Pfeil werde ich nicht auf die Reise schicken. Ohne Eric wird sie nicht weit kommen. Sie wird vermutlich von den Trollen gefunden und dann getötet werden. Überlassen wir sie ihrem unvermeidlichen Schicksal. Und sollte sie es überleben, werde ich dafür sorgen, dass sie in meine Fußstapfen tritt.“
Dann wandte sich Arnaka mit einem lauten Lachen ab und machte sich zurück auf den Weg zur Königin. Sie würde sicherlich mit Freuden vernehmen wollen, was geschehen war.
*
„Eric! Was ist geschehen? Was ist mit dir? Bitte, sag doch etwas!“, rief Emily verzweifelt, doch Eric rührte sich nicht.
Im nächsten Moment nahm sie wahr, wie sich sein Gesicht mit einer fleckigen Schicht überzog. Diese Flecken breiteten sich rasend schnell aus, bis sie auch auf seinem Hals, seine Arme und Hände erschienen. Ratlos und vom Schrecken der letzten Minuten gelähmt, schaute sie zu, was mit Eric geschah. Die Flecken verwandelten sich nun langsam in münzengroße Schuppen und erinnerte sie an das Aussehen eines Reptils.
Von Sekunde zu Sekunde, die verging, wurde Emily klar, dass der Pfeil der Hexe vergiftet gewesen sein musste. Dies schien ihr die einzige Erklärung zu sein, warum sich nun diese Flecken auf Erics Körper ausbreiteten. Sie spielte mit dem Gedanken, Erics Hand zu ergreifen und das Gift aus ihr zu saugen, so, wie sie es einmal in einem Film gesehen hatte, aber da sich das Gift so schnell ausgebreitet hatte, glaubte sie kaum, dass dies noch einen Sinn gehabt hätte.
„Eric, bitte, wach auf! Was soll ich ohne dich tun? Ich weiß doch gar nicht, wie ich wieder nach Hause komme!“, stammelte sie und Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie warf sich im Geiste vor, dass sie sich zwar Sorgen um ihn machte, aber dass sie gleichzeitig wieder nur an sich denken und wie sie wieder nach Hause kommen konnte.
So blieb Emily neben ihm sitzen und starrte wie gebannt auf die Schuppen, die nun Erics Körper völlig überdeckten. Der Tod umschlich Eric und dies traf sie wie ein Schock. Es war ihr mittlerweile gleichgültig, ob ein weiterer Pfeil aus dem Nichts angeschossen kommen und sie treffen könnte. Sie wusste ohnehin nicht, was sie jetzt noch tun könnte. Sie konnte den Blick nicht von ihm nehmen und eine Leere machte sich in ihr breit, wie sie sie nie zuvor gefühlt hatte. Es vergingen Stunden und Emily schaute nun zum Horizont, wo sich langsam die Sonne senkte, um die nächste Nacht einkehren zu lassen. Innerlich kämpfte sie mit sich selbst, denn während ein Teil ihr riet, aufzuspringen und den Weg zurückzulaufen, empfahl ihr ein anderer Teil, einfach sitzen zu bleiben und die Nacht einbrechen zu lassen. Sollte sie vielleicht dann nur aufstehen, um ein Feuer zu machen oder Eric mit Blättern aus dem nahe gelegenen Wald zuzudecken, doch sie konnte sich einfach nicht rühren. So blieb sie eine sehr lange Zeit erstarrt dort sitzen.
Ängstlich führte sie ihre Hand auf Erics Brust. Sie schob ihre Hand weiter nach rechts, um sein Herz fühlen zu können. Was würde geschehen, wenn sie keinen Herzschlag fühlen würde? Dann besäße sie die Gewissheit, dass es um Eric geschehen war. Gleichzeitig fragte sich Emily, welch seltsames Gift eine solche Wirkung besaß, dass es Eric dazu veranlasste, sich in eine Mischung aus Mensch und Reptil zu verwandeln? Vielleicht war dies aber auch sein wirkliches Aussehen oder eine allergische Reaktion eines Formwandlers auf ein bestimmtes Gift. Sie konnte es einfach nicht sagen! Eric hatte Recht behalten. Sie konnte es nicht mit absoluter Sicherheit bestimmen, was hier geschah. In solchen Augenblicken, so hatte er ihr gesagt, würde sie nur eine Wahl treffen und hoffen können, dass diese der Wahrheit am nächsten kam. Sie konnte niemals wissen, was nun stimmte und was nicht. War nun Eric bereits tot oder konnte sie hoffen, dass er sich wieder erholen würde?
Nun lag ihre Hand auf Erics Herzen und sie spürte tatsächlich keinen Herzschlag! In diesem Moment war sie sicher, dass Eric nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die Hexe hatte es geschafft und ihn mit einem vergifteten Pfeil getötet. Bei einem vergifteten Pfeil war es völlig unerheblich, wo man getroffen wurde, dabei zählte nur, dass das Gift irgendwie in den Blutkreislauf gelangte. Eigentlich war der Pfeil für sie bestimmt gewesen. Wenn Eric ihn nicht aufgehalten hätte, dann würde sie nun an seiner Stelle dort liegen. Wie noch nie in ihrem Leben zuvor fühlte sie eine unglaubliche Einsamkeit, die sie nun ergriff. Sie kroch in ihr Bewusstsein und überflutete sie mit Trauer und Verzweiflung. Ihr Leben lang hatte sie immer nur an sich gedacht, sobald irgendetwas geschehen war, das ihr nicht gepasst hatte. Wie oft hatte sie stets die anderen Menschen gehasst, die nicht so gehandelt hatten, wie sie es sich wünschte. Es stimmte, was Eric gesagt hatte. Der Tod macht alles gleichgültig. Wenn er kam, wurden alle Probleme belanglos. Dies musste Emily nun mit Schrecken erkennen. In diesem Moment konnte sie all ihren Hass und ihr Misstrauen gegen Eric loslassen. Die Anwesenheit des Todes, der sie hier so rücksichtslos umschlich und mit Sicherheit auch irgendwann von ihr Besitz ergreifen würde, zeigte ihr nun deutlich, worauf es im Leben ankam. All diese Dinge gingen ihr durch den Kopf, während ihre Hand noch immer auf Erics Brust ruhte.
Plötzlich glaubte Emily einen einzelnen Herzschlag gefühlt zu haben! Eine unglaubliche Last fiel für einen winzigen Augenblick von ihrem Herzen. Hoffnung keimte auf, dass Eric noch leben könnte, aber diese verflog im nächsten Wimpernschlag wieder, denn es folgte kein weiterer Herzschlag. Wahrscheinlich war dies nur eine nachträgliche Körperreaktion gewesen, schlussfolgerte sie. Doch eine Minute später spürte sie erneut einen Herzschlag, zumindest fühlte es sich so an. Dann warf sich Emily nach vorn und hielt ihre Wange ganz nah an seinem Mund. Sie hoffte, seinen Atem zu spüren, doch sie fühlte nichts.
„Eric! Sag was! Lebst du noch?“
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, vernahm sie einen Atemzug, so langsam und gemächlich wie eine Raupe auf dem Weg zu einer Blattspitze.
Emily setzte sich in ihrer puren Verzweiflung auf Eric und ergriff ihn an seinen Schultern und schüttelte ihn: „Eric! Du kommst wieder zurück! Bitte sag was! Sag mir, dass du leben wirst!“
Langsam bewegten sich Erics Lippen und er versuchte etwas zu sagen. Nur schwer gelang es ihm, einen Satz zu formulieren: „Ich musste das Gift aufhalten… mich in Echse verwandelt…“
Beinahe hysterisch begann Emily zu lachen. Jetzt verstand sie, was geschehen war! Der Pfeil war tatsächlich vergiftet gewesen, aber ihre Annahme, dass es für diese Flecken und Schuppenbildung verantwortlich gewesen war, stellte sich als falsch heraus. Sie hatte sich für das Richtige entschieden und war nicht einfach den Weg zurückgelaufen, den sie gekommen waren, in der Hoffnung, einen Ausgang aus dieser Welt zu finden, um wieder nach Hause zu gelangen.
*
Die Sonne war längst am Horizont verschwunden und eine unheimliche Stille umgab nun die beiden. Nach einer weiteren Stunde war es Eric gelungen, sich wieder aufzurichten. Emily schmiegte sich an ihn, um ihn zu wärmen, denn er schien am ganzen Körper vor Kälte zu zittern. Eng umschlungen saßen sie auf der Wiese und die Sterne funkelten in einem silbernen Licht.
„Ich musste das Gift daran hindern, dass es zu meinem Herzen gelangen konnte“, erklärte Eric, nachdem er wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war. „Aus diesem Grunde habe ich mich in eine Echse verwandelt. Deren Stoffwechsel ist wesentlich langsamer als das eines Menschen und ich konnte mir so genügend Zeit verschaffen, meine inneren Kräfte zu aktivieren und Abwehrmaßnahmen einzuleiten, um das Gift aufzuhalten. Mein Körper hat dann den Rest erledigt und das Gift aufgehalten.“
Emily war einfach nur erleichtert. Die Erklärung war ihr eigentlich nahezu gleichgültig geworden. Wichtig war nur, dass er es geschafft hatte, nicht zu sterben und bei ihr zu bleiben. Auf der einen Seite besaß er etwas an sich, das sie liebte, aber auf der anderen Seite gab es auch etwas, das sie abstieß und ihr stets Angst gemacht hatte. Seine Unberechenbarkeit war ihr unheimlich gewesen und sie konnte kein richtiges Vertrauen zu ihm aufbauen, aber auch seine seltsame Fähigkeit war so undurchsichtig und angsteinflößend, dass sie am liebsten davongelaufen wäre. Noch nie hatte sie sich einem Menschen gegenüber so gespalten gefühlt. Doch dies alles war nun in den Hintergrund getreten. Die Anwesenheit des Todes hatte ihr einen Hinweis zurückgelassen: Alles beginnt und endet mit einer Entscheidung. Warum also sich für die dunkle Seite der Macht entscheiden, wenn jede Entscheidung von einem selbst getroffen wurde? Die dunkle Seite raubte ihre Kraft, sobald man sich für sie öffnete. Das lag an der Natur ihrer Existenz. Nur wer dies erkannte, konnte Zugang zu seiner eigenen immensen Kraft finden und Herr über sein eigenes Schicksal werden.
Nachdem sich Eric wieder erholt hatte, raffte er sich auf und reichte Emily die Hand.
„Und, wie fühlst du dich?“, fragte er, nahezu wieder zu seiner alten Konstitution zurückgefunden. Ebenso hatte er sich mittlerweile in das vertraute Erscheinungsbild seiner selbst zurückverwandelt. Mit einem Handgriff hatte er sich seinen Hut geschnappt und wieder auf seinen Kopf platziert.
„Wie ich mich fühle? Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist! Weißt du, dass du dem Tod nur um Haaresbreite entkommen bist?“
„Ja, das weiß ich, aber auch du bist dem Tod um Haaresbreite entkommen. Denn wenn du mit diesem Hass zurückgeblieben wärst und ich vorhin gestorben wäre, hätte dich die dunkle Seite für immer erobert.“
Danach gingen sie minutenlang an der Waldgrenze entlang. Jetzt hatten die beiden einen taktischen Vorsprung, denn die Hexe glaubte, dass Eric tot sei und Emily vielleicht längst den Trollen zum Opfer gefallen.
„Wie sieht unser Plan aus?“, fragte Emily.
„Wir werden unseren Weg nach dem magischen Ort fortsetzen und wenn wir angekommen sind, wirst du in die Träume der Königin eindringen und das unheilvolle Band zwischen Arnaka und ihr durchtrennen.“
„Ich glaube, Arnaka muss etwas Ähnliches passiert sein. Sie hat sich der dunklen Macht verschrieben. Weißt du, was mit ihr geschehen ist?“
„Nein“, antwortete Eric. „Das weiß ich nicht. Wir können aber sicher sein, dass sie sich irgendwann einmal für die dunkle Seite entschieden haben muss.“
„Meinst du, wir können sie auch retten, so, wie wir die Königin retten können?“, wollte Emily wissen.
„Ich weiß es nicht, sie ist schon sehr lange so, wie sie ist.“
„Aber wenn wir das Band zwischen der Königin und der Hexe trennen können, vielleicht wird sie dann wieder zu sich kommen und sich besinnen.“
„Nein, das wird sie nicht. Im Gegenteil, dies wird ihren Hass umso mehr schüren und sie wird alles daran setzen, uns und zusätzlich noch die Königin zu vernichten. Man kann nicht jemand anderes dazu bringen, sich von der dunklen Seite abzuwenden, das muss jeder für sich selbst schaffen.“
Mit diesen Worten setzten sie ihren Weg fort.