Jagd nach Information
[Dream to Reality]
Eine Kurzgeschichte von © Jonathan Dilas
Über den weiteren Diskussionsverlauf mit einer indisch-indianischen Gruppe von vielleicht zehn Personen und ihren Konflikten mit einer asiatischen Gang hielten seit Stunden an. Wir kamen zu keinem Ergebnis und die Wortführerin, die einen bisher noch nicht erschienenen »weisen Mann« mit seinen Worten vertrat, konnte in unseren Vorschlägen keine Lösung erkennen.
Im Hinblick auf meine Stellung in dieser diplomatischen Vorgehensweise dieser neutralen und internationalen Gruppe schien ich nur eine sehr geringfügige Rolle zu spielen und besaß nicht die Position, überhaupt einmal das Wort zu ergreifen. Ehrlich gesagt, war ich nicht mal in der Lage, diesen Konflikt zwischen diesen beiden Gruppierungen, bei denen die Inder definitiv sehr friedliebend waren, zu überblicken oder irgendwie lösen zu können. Die asiatische Gang war offensichtlich auf Einfluss und Macht aus, daher versuchten sie mehrere Stadtviertel zu kontrollieren und von den Besitzern der umliegenden Häuser und Geschäfte hohe Schutzgelder zu verlangen.
Die Stunden zerrannen und plötzlich sprang die Wortführerin auf und sagte, dass sie keine weiteren Gespräche mehr für nötig hielte und jede weitere Verhandlung nur mit mir klären würde.
Das überraschte mich sehr, denn damit hatte ich aufgrund der Umstände nicht gerechnet. Ich schaute ein wenig irritiert um mich, aber ich war bereit, mich auf ihre Forderungen einzulassen, auch wenn ich im Moment keine Vorstellung besaß, wie ich in dieser Situation hätte helfen können.
Ein Mann trat aus der Menge hervor und ich sollte ihm folgen.
Wortlos ging er auf eine Tür zu, schaute sich noch einmal um, öffnete sie und ging hindurch. Ich folgte ihm sofort und als ich die Tür öffnete, sah ich ihn bereits an der nächsten Tür. Das war einfach nicht möglich, innerhalb einer Sekunde eine Tür am Ende des Ganges zu erreichen, der vielleicht 30 Meter lang war.
Ich sah, wie er sie bereits geöffnet hatte und sie gerade noch hinter ihm zufiel. Diesmal wollte ich es wissen und rannte so schnell ich konnte zu dieser Tür, riss sie auf und sah dahinter einen weiteren Gang, der ebenfalls so lang war, und sich die nächste Tür gerade hinter ihm schloss.
Ich verzweifelte beinahe, weil mir einfach nicht einleuchten wollte, dass sich ein Mensch so schnell bewegen konnte. Es war unmöglich.
Einige Türen später fand ich mich in einer Wohnung wieder, in der sich viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten aufhielten: Inder, Indianer und Afroamerikaner. Eine der Frauen begrüßte mich auf dem Flur. Sie schien mich zu kennen, aber ich konnte mich nicht mehr an sie erinnern.
Danach wurde ich in einen Raum geführt und setzte mich erst einmal auf ein Bett, das an einer Wand stand. Mit der Wand im Rücken saß ich auf der Bettkante und blickte in den Raum hinein. Hier besaß ich einen optimalen Überblick und konnte gelassen auf diesen ominösen, weisen Mann warten. Meine Augen ruhten auf den beiden Eingangstüren am anderem Ende des Raumes und der auf der rechten Seite. Einige Minuten später wurde ich jedoch ungeduldig:
»Wann kommt der weise Mann?«
Neben mir waren noch bestimmt zehn Personen in diesem Raum und sie alle kicherten. Eine der Frauen, eine Afroamerikanerin, kicherte ausgelassen in ihr Fäustchen und ich fühlte mich ein wenig auf den Arm genommen.
»Wo ist er denn nun oder kommt er nicht mehr…?«, hakte ich noch mal nach.
Das Gekicher zog sich durch den ganzen Raum und mir wurde unbehaglich.
Plötzlich fühlte ich, dass sich irgendwas hinter mir befand. Ich wagte kaum, mich umzudrehen, aber dann ging ein Mann rechts an mir vorbei, hüpfte vom Bett auf den Boden und ging einfach durch eine Tür. Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie es ihm gelungen war, sich hinter mich zu schleichen oder gar durch die Wand gegangen zu sein, also lief ich zügig hinter ihm her.
»Warten Sie!«, rief ich hinter ihm her und wollte wissen, wie er das hatte anstellen können, aber ich war auch neugierig darauf zu erfahren, wieso er sich gerade für mich bezüglich der weiteren Verhandlungen entschieden hatte.
Wir gingen nur in den Nebenraum und ich fand mich in einer Art Kellergewölbe wieder. Es besaß weit mehr als 200 m² und einige eckige Säulen. Die Afroamerikanerin war mitgekommen und stand ungefähr zehn Meter weiter links von mir, der weise Mann stand in gleicher Entfernung vor mir.
Nun erhielt ich Gelegenheit, ihn mir genau anzusehen: Er hatte langes, graues Haar und einen hellbraunen Indiana-Jones-Hut auf. Seine Gestalt wirkte sehr kompakt, aber nicht dick. Außerdem trug er ein weißes Hemd, das nicht in seiner braunen Hose steckte sowie eine hellbraune Weste darüber. In seinen Händen hielt er eine ungefähr dreißig Zentimeter lange Stange mit einem Durchmesser von vielleicht sieben bis acht Zentimetern.
»Ich freue mich, dass du Zeit für uns gefunden hast«, meinte er zu mir und lächelte mich an.
»Keine Ursache, aber wieso wählten Sie mich für die weiteren Verhandlungen aus?«
»Mach dir keine Gedanken, du wirst gleich alles verstehen.«
Er drehte die silberne Stange in seinen Händen und in diesem Moment traten aus vier kleinen Öffnungen sehr lange, bläuliche Strahlen heraus, die mit sehr hoher Geschwindigkeit gegen die Decke schossen, ohne irgendeinen Schaden anzurichten. Dieses seltsame Ding erschien mir wie eine Art vierfacher Bunsenbrenner, der aber in seiner Wirkung der Decke nichts antat und somit ungefährlich schien. Ich spekulierte daher, ob es eine Art kalter Feuerstrahl war.
Plötzlich überkam mich die Gewissheit, dass er diese Strahlen gleich auf mich richten würde und bevor ich etwas sagen konnte, drehte er den Stab mit seiner Breitseite zu mir und die Strahlen trafen sofort auf meine Brust.
Auf mir unerklärliche Art vertraute ich dem Mann in diesem kritischen Moment.
»Was kommt aus dem Stab heraus? Was ist das?«
»Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut. Das, was du aus dem Stab kommen siehst, ist ein Gas.«
»So«, fügte er dann hinzu, »nun werden wir ein wenig Licht in dein Inneres bringen«, rief er mir zu, denn die Strahlen erzeugten ein lautes Geräusch, als wären vier Schweißbrenner gleichzeitig aktiv.
»Das wird dann wohl meine gemütliche Dunkelheit aus mir herausstrahlen«, entgegnete ich humorvoll und er grinste.
Intuitiv ging ich nun auf den Mann zu und es entstand ein heftiger, aber schmerzloser Druck auf meiner Brust, der mich irgendwie zurückdrängte, als versuchte ich einem starken Wind zu trotzen.
Nun drängte mich der Strahl immer weiter zurück und zurück, bis ich mit einem Mal erkannte, was hier vor sich ging! Diese Strahlen wirkten auf meine Persönlichkeit und nicht auf meinen physischen Körper.
Ich verstand, dass mein Körper mein ganzes Leben lang nur ein Vehikel gewesen war und dass ich ihn die ganze Zeit nur bedient hatte. Es war, wie wenn ein Mensch sein Leben lang in einem Auto fuhr, irgendwann ausstieg und erkannte, dass er und das Auto überhaupt nicht identisch waren.
Im gleichen Moment dieser Erkenntnis stolperte ich nach hinten und fiel in einen Armsessel, der dort stand.
Entspannt lehnte ich mich zurück und haderte mit mir selbst, denn wenn ich mich nun nicht mehr in meinem Körper befand, musste er sich irgendwo befinden und es grauste mich davor, aufzublicken und in die Augen meines eigenen Körpers zu schauen! Alles in mir dehnte sich zu einem Augenblick der unaufhaltsamen Entscheidung, es einfach zu tun und nicht weiter über die Konsequenzen nachzudenken.
Während sich mein Kopf hob und sich beinahe wie automatisch in seine Richtung drehte, erwartete ich in höchster Anspannung ein traumatisierendes Bild voller Schrecken… und da erblickte ich ihn! Er stand mitten im Raum, völlig erstarrt, wie eingefroren. Ein bläulicher Film umgab ihn und er wirkte, als sei er nach jahrelangem Aufenthalt im Wasser daraus geborgen worden.
Doch trotz seiner bläulichen Farbe erkannte ich meinen Körper durchaus wieder und es war höchst irritierend zu sehen, wie er in die Ferne starrte und mir meine Überraschung noch so nachweislich im Gesicht stand, nachdem der alte Mann dieses Gerät auf mich gerichtet hatte und wie von Zauberhand bewegt, fühlte ich eine magische Ausstrahlung, die von ihm ausging. Es war, als wollte er mich verführen, locken, sodass ich wieder in ihn hineintrat und der sein konnte, der ich immer war und immer sein sollte…
Gleichzeitig wusste ich, dass ich ihm widerstehen und dafür sorgen musste, dass ich diesem aufdringlichen Zauber so lange standhielt, wie es eben ging. Also sprang ich auf und lief aus dem Raum hinaus, um mich aus seinem Wirkungskreis zu befreien.
Draußen angekommen blickte ich an mir herunter und überprüfte meinen Zustand. Ich schien mich noch immer in einem Körper zu befinden, aber ich blickte durch ihn hindurch und sah den Boden unter meinen Füßen. Es war ein irrwitziges Bild, das sich mir hier bot, aber es war höchst angenehm und ich empfand eine umfassende Freiheit, alles tun zu können, was mir einfiel. Darüber hinaus erkannte ich, dass ich anscheinend unsichtbar war, denn als ich den Raum verlassen hatte, suchte mich die afroamerikanische Frau im Raum und sah mich nicht.
Der weise Mann hingegen hatte in meine Richtung gelächelt, als wäre es ihm möglich gewesen, mich trotzdem zu sehen.
Ich war sicher, dass er einverstanden war, mich nicht sofort wieder mit meinem Körper zu vereinen, denn dann wäre die Wirkung seines Gerätes völlig vergeblich gewesen.
Nun sah ich einen Rottweiler, der das Gelände bewachte und entschloss mich, ihn ein wenig zu necken.
Langsam ging ich auf ihn zu und wollte an seinem Schwanz ziehen, aber ich griff hindurch! Es war mir nicht möglich, ihn anzufassen. Dann versuchte ich ihn mit Rufen zu irritieren oder seine Aufmerksamkeit anders einzufangen, aber auch das blieb erfolglos. Plötzlich kam ein weiterer Rottweiler herbei und lief direkt auf mich zu. Er leckte meine Hand, als sei sie physisch und ich spürte nichts. Ich war sicher, dass er mich wahrnehmen konnte. Ich bückte mich und simulierte ein Streicheln seines Felles, während er mir in die Augen sah und hechelte.
Plötzlich vernahm ich ein Geräusch, als hätte sich eines meiner Ohren willkürlich verdreht und diesen Laut um ein Vielfaches verstärkt.
Ich sprang auf und schaute von oben auf ein Garagendach. Auf ihm befanden sich zwei Asiaten und es war offensichtlich, dass sie nur eine Vorhut für weitere aus ihrer Gang waren und das Haus attackieren wollten.
Schnell lief ich zurück und wollte den alten Mann warnen. So stürmte ich durch die verschlossene Tür und rief, dass die Gang im Anmarsch wäre und wir uns irgendwie verteidigen müssten. Der alte Mann sah mich sofort und schien mich auch verstanden zu haben. Er gab den anderen Bescheid, sich entsprechend vorzubereiten und als ich gerade versuchte, mich irgendwie wieder mit meinem Körper zu vereinen, um tatkräftig mithelfen zu können, hielt er mich fest.
»Nein, geh nicht wieder hinein! Du musst draußen bleiben.«
»Und was soll ich dann machen?«, hakte ich nach.
»Lass uns deinen Körper verstecken, damit sie ihn nicht finden! Wir stellen ihn dort in die Ecke und du stellst dich davor.«
Eine der Frauen kam herbeigelaufen und half ihm, meinen Körper hinter einem Regal mit Tüchern zu verstecken. Ich stellte mich dann davor und beobachtete, was als nächstes geschah:
Die Tür flog auf und es drangen mehr als acht bewaffnete Asiaten ein, die von einer Frau angeführt wurden. Sie war im Kampf erfahren und fegte sogleich einige der Personen, die sich ihr in den Weg stellten, mit Schlägen und Tritten zur Seite. Sie gewann sehr schnell die Überhand und kurze Zeit später saß sie mit dem weisen Mann und der Afroamerikanerin an einem Tisch und sie schien an irgendwas interessiert zu sein, was sie besitzen wollte. Einige Geisel wurden mit Messern bedroht, um die beiden gesprächig zu halten.
»Ihr wisst genau, wieso ich hier bin! Ihr wisst etwas, was ich wissen muss. Ich will diese Information um jeden Preis und werde nicht eher gehen, bis ihr mir mitgeteilt habt, was ich wissen will!«, forderte die Anführerin barsch.
Der weise Mann blieb sehr ruhig und es wirkte, als schaute er durch sie hindurch. Neben mir befand sich eine Inderin, die sich mit mir unterhielt. Sie schien mich wahrzunehmen und ich erkannte sie als eine der Frauen, die mich auf dem Flur begrüßt hatte. Ich konnte nun sehr deutlich fühlen, dass sie mich mochte und sich zu beruhigen versuchte, indem sie Kontakt zu mir hielt. Doch der asiatischen Anführerin fiel das schnell auf. Sie sprang wütend auf und suchte mich in dem Raum, konnte mich aber nicht sehen.
»Es ist auch unwichtig, wer hier noch versteckt herumlungert«, rief sie wild und riss einige der Schränke und Regale um, die um sie herum standen.
Gleich der erste Schrank mit Geschirr und einer Glastür fiel laut klirrend zu Boden und auf seiner Rückwand erblickte ich einige Worte oder Buchstaben, die ich nicht richtig entziffern konnte. Ich sah ein F und eine 1, darunter ein H, ein S und eine 3. Nachdenklich versuchte ich mehr zu erkennen und mir das Gelesene zu merken. Derweil schaute auch die Anführerin auf die Buchstaben und grinste zufrieden.
»Aha! Da haben wir doch, was wir suchten!«, und beugte sich ein wenig vor.
In diesem Augenblick holten wir zum Gegenschlag aus. Einige konnten sich aus der Klammerung der Bedroher befreien und schlugen sie nieder. Ich stürmte nach vorn und versuchte mich einzumischen, sie zu schlagen oder zu irritieren, aber es gelang mir nicht. Der Kampf verlagerte sich dann nach draußen und wurde dort weitergeführt, als ich mich an den Augenkontakt mit dem Hund erinnerte.
Ich besaß nun das Gefühl, dass ich einfach dafür sorgen musste, dass mich die Asiaten sahen, um sie zu irritieren oder sonst eine Wirkung auf sie ausüben zu können. Also sprang ich zu einem der Asiaten hin und konzentrierte mich ausgiebig auf seine Augen.
Plötzlich veränderte sich sein Blick und er konnte mich sehen. In dem Moment erschrak er zutiefst, lief blau an und erstarrte, wie auch ich zuvor erstarrt war. So fuhr ich mit einigen anderen fort, bis ich bestimmt an die zehn Asiaten eingefroren hatte. Jedoch spürte ich, dass mich das sehr viel psychische Energie gekostet hatte und meine Bauchregion begann zu schmerzen.
Ich löste mich aus der Gruppe und beschloss, irgendwie mehr Energie aufzunehmen, aber eine unbekannte Kraft zog mich zurück in den Raum, wo mein Körper gut versteckt lag.
Wir hatten die Gang erfolgreich in die Flucht geschlagen und ich war wieder mit meinem Körper vereint. Doch eine Ungewissheit und drohende Ahnung blieb in mir enthalten, denn wieso war es mir mein Leben lang nicht aufgefallen, dass ich nicht das Auto bin?
(© Jonathan Dilas, Oktober 2003)