Orplid, Orplid in der Wand…
Eine Kurzgeschichte von Jonathan Dilas, 1989
Die Sonne ging unter.
Tief orange Strahlen strömten ins Zimmer und erfassten eine junge Frau, die sich nach der Arbeit ein wenig hingelegt hatte. Ihre blasse Haut verschwand im warmen Licht und vereinzelte Strahlen kitzelten ihre Nase, bis sie erwachte.
Langsam erhob sie sich von ihrer Couch, streckte ihren Körper, und strich sich eine Strähne ihrer dunkelroten Haare aus ihrem Gesicht. Der Fernseher lief noch. Mit tapsigen Schritten ging sie ins Badezimmer, um sich zu waschen.
Als sie ihr Gesicht wusch, dachte sie über sich und ihr Leben nach:
Vor vier Jahren hatte sie ihr Studium angeschlossen. Seit dieser Zeit arbeitet sie jeden Tag acht Stunden in einem Büro mit Ausblick auf ein kleines Stück Himmel. Manchmal gab es auch Überstunden. Danach mit dem Bus nach Hause, duschen, ein Nickerchen und ab und zu ging sie dann auch in ein Café, um einfach nur Leute zu beobachten.
Eine Stunde später ging sie wieder nach Hause, um sich einen Spielfilm anzuschauen oder ein gutes Buch zu lesen. Irgendwann schlief sie dann wieder ein, damit sie für den nächsten Arbeitstag ausgeschlafen war.
Am Wochenende ging sie gelegentlich ins Kino, aber meistens ging sie spazieren und dachte über sich und ihr Leben nach. In ihrem Leben gab es noch ihre Eltern und eine Freundin. Einen Freund hatte sie schon lange nicht mehr. Manchmal wünschte sie sich jemanden, an den sie sich anlehnen und geborgen fühlen konnte, aber ihr fehlten vielleicht die Gelegenheiten, danach zu suchen.
Irgendwie kam sie mit den Männern auch nicht gut aus, bisher waren all ihre Beziehungen ein Reinfall gewesen und machten Angst, etwas Neues zu versuchen. Hinzu kommt, dass sie auch nicht so gut aussah, als dass man sie auf der Straße oder im Café häufig ansprechen würde. Ihre Freundin Andrea hatte seit einigen Monaten einen Freund. Seit letzter Zeit hatten sie sich auch immer weniger getroffen. Mit ihren Eltern hatte sie dauernd Streit, darum fuhr sie auch selten zu ihnen.
Carla hob ihren Kopf und blickte in den Spiegel. Einige Wassertropfen liefen durch den Haaransatz an ihrer Stirn herunter. Ihr Gesicht war blass und ihre hellgrünen Augen erschienen ihr recht matt. Früher hatten ihre Augen immer geglänzt, aber heute hatten sie ihren Glanz verloren. Sie fragte sich noch, wie so etwas kommen kann, wovon es abhängt, als sie ein beklemmendes Gefühl beschlich.
Sie kannte das Gefühl. Sie hatte es oft als Kind, wenn sie mit ihren Puppen gespielt hatte. Es war ein Gefühl, ganz bestimmend, dass sie von einem Unsichtbaren beobachtet wurde. In diesem Moment bekam sie ihren Blick nicht mehr vom Spiegel weg und griff so blind zu einem Handtuch, um ihr Gesicht abzutrocknen.
Ihr Gesicht war eigentlich schon lange trocken, aber es lenkte sie von diesem Gefühl ab, wenn sie es dennoch benutzte. Die Fixierung auf ihre Augen hatte anscheinend die Zeit beschleunigt, dachte sie, und zog ihre Stirn kraus, wundernd über ihre eigenen Gedankengänge. Kurzerhand legte sie das Handtuch ab und verließ das Badezimmer.
In ihrem peripheren Blickwinkel glaubte sie kurz, ein anderes Gesicht wahrgenommen zu haben und das Gefühl schwoll dermaßen an, dass sie beinahe zu schreien anfing, um es zu vertreiben. Mit eiligen Schritten lief sie jedoch zum Lichtschalter, aber als sie ihn betätigte, bemerkte sie panisch, dass er nicht funktionierte.
Eigentlich warfen die letzten Sonnenstrahlen ein schönes Licht durch ihr Westfenster ins Zimmer, aber es war trotzdem schon dunkel genug, um sich in einem labilen Zustand fürchten zu können. Es war ihr einfach nicht hell genug. Sie wollte alles sehen können, damit sie sich besser verteidigen könnte, wenn hier jemand war… wenn hier wirklich jemand sein würde… Es schoss ihr durch den Kopf, doch unter das Bett zuschauen, oder die Schranktür zu öffnen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie wirklich ganz alleine war, aber das war das letzte, was sie jetzt tun wollte.
»Ich sehe schon Gespenster«, murmelte sie und in diesem Moment fiel ihr wieder der Fernseher ein.
Er lief immer noch. Es lief gerade Werbung. Warum war ihr die ganze Zeit der Ton nicht aufgefallen? Irgendwie war nun alles wieder völlig vertraut und ihre Angst verschwunden. Sie wühlte in einer Schublade herum, denn sie wollte die Sicherheit des Alltags nutzen, um flink eine Glühbirne zu wechseln.
Als sie keine finden konnte, wollte sie in der Küche nachsehen, aber auf dem Weg dorthin blitzte es plötzlich, so, dass ihre ganze Umgebung für einen kurzen Moment in gleißend helles Licht getaucht schien. Ihr Herz raste.
Sie schluckte und die Panik kehrte zurück. Sie stand stocksteif im Raum und war unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Ein Teil in ihr wartete auf einen Donner, vielleicht ein Gewitter, aber sie wusste, dass kaum Wolken am Himmel standen konnten. Sie durchbrach ihre Lähmung mit äußerster Anstrengung und ging einige Schritte rückwärts.
Ihr Blick hing förmlich an der Türklinke, die sie eigentlich herunterdrücken wollte, um in die Küche zu gelangen. Dann drehte sie sich abrupt um und lief ins Badezimmer, schlug die Tür hinter sich zu und schloss ab.
Auf dem Klodeckel sitzend dachte sie über dieses seltsame Blitzen und ihre Angst nach. Minuten später lächelte sie über sich selbst, stand auf und schloss die Tür wieder auf. Selbstbewusst trat sie wieder ins Wohnzimmer ein.
Plötzlich blitzte es wieder. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass wenige Meter vor ihr, unmittelbar an der Wand, die Luft flimmerte. Unter der so deutlichen Wahrnehmung und der Unfähigkeit, zu schreien, formte sich aus dem Flirren eine menschliche Gestalt. Es sah aus, als trat jemand aus dem Flirren oder aus der Wand heraus, als existierte dort eine unsichtbare Tür. Zuerst war es nur eine Silhouette, aber es wurde zu einer Frau. Es war eine ganz normale Frau, kein Mann mit einem langen, schwarzen Umhang und langen Eckzähnen.
Diese Frau war ihr völlig fremd. Sie trug ein langes, grünes Kleid, besaß schwarzes Haar und ein wunderschönes Gesicht. Das erste, was Carla an ihr auffiel, waren ihre strahlend hellen Augen.
In völliger Stille standen sich diese Frauen gegenüber und niemand schien es zu wagen, auch nur ein Wort zu sagen. Es waren vielleicht Minuten vergangen, eventuell aber auch Stunden, als Carla erkannte, dass diese Frau ihr Zeit ließ, um sich an diese neuen Umstände zu gewöhnen. Irgendwann beruhigte sie sich wirklich und ihr Körper schien ihr auch wieder zu gehorchen. Sie fasste all ihren Mut zusammen und fragte:
»Wer bist du?«
Irgendwer in ihr hätte gern zu etwas gegriffen und diesen Eindringling verjagt, aber ihre Neugier war viel größer.
»Ich bin Kara«, antwortete die Frau mit einer sanften und ruhigen Stimme.
»Was willst du hier? Woher kommst du? Konntest du nicht einfach klingeln?«
Immer mehr Fragen drängten sich auf und ihre Angst nahm mit jeder Frage mehr und mehr ab.
»Ich benötige deine Hilfe!«, behauptete Kara und machte einen Schritt nach vorn.
»Bleib bloß da stehen!«, rief Carla.
Sie konnte Karas Absichten noch nicht durchschauen und jede Bewegung verunsicherte sie wieder. Kara machte wieder einen Schritt rückwärts.
»Ich bin in Frieden gekommen und werde dir nichts antun. Ich kann dir auch nichts tun. Das einzige, was ich will, ist, mit dir zu reden.«
»Das kann ja jeder sagen! Hör mal! Du dringst hier in meine Wohnung ein, tauchst mitten aus der Luft auf und sagst dann ganz trocken, dass du meine Hilfe brauchst… Das ist absurd!«
»Ich bin gekommen, um dich um Hilfe zu bitten. Dort, wo ich herkomme, ist etwas Grauenhaftes passiert und meinen Informationen zufolge bist du die Einzige, die helfen kann.«, Kara senkte ihren Kopf, schien aber Carla dabei nicht aus den Augen zu lassen.
Carla konnte das alles gar nicht fassen. Sie fühlte sich, als wäre alles eine technische, ausgeklügelte Falle, um sie lächerlich zu machen, auch wenn sie dabei nicht bedachte, wer denn daran Interesse haben könnte. Einen Moment dachte sie sogar an einen Filmprojektor, der sich allein eingeschaltet hatte, oder irgendeine neue Hologrammtechnologie, von der sie noch nichts wusste, aber langsam erkannte Carla, dass dies alles nur unbeholfene, schwachsinnige Interpretationsversuche waren, um die gegenwärtige Situation zu erklären und den leichten Schock zu mindern.
Irgendwie schaffte sie es ihren Verstand zu beruhigen, indem sie sich vorstellte, irgendeine der Nahrungsmittel, die sie zu sich genommen hatte, wären schlecht gewesen.
»Woher weiß ich, dass du es ehrlich mit mir meinst? Vielleicht ist das irgendein Trick, um mich zu irgendwelchen Taten zu überreden.«
»Glaubst du das wirklich, Carla? Was sagt dir dein Gefühl?«
Carla war neugierig, auch wenn ihr Verstand ihr riet, diesen unheilvollen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Sollte diese Frau doch in ihrer Wohnung bleiben, hier gab es nicht viel zu holen. Sie fühlte sich schon ein wenig hin- und hergerissen, bis sie den Entschluss fasste, einfach einmal zuzuhören und sobald ihr irgendwas faul vorkommen würde, diese Kara einfach vor die Tür zu befördern oder laut um Hilfe zu schreien.
»Okay, erzähl schon. Wobei soll ich dir helfen?«
»Das kann ich dir so nicht erklären. Du würdest es nicht verstehen. Es ist darum notwendig, dass du mit mir kommst, dorthin, woher ich komme.«
Carla lachte auf: »Das kommt gar nicht in Frage! Entweder du erklärst mir jetzt, worum es geht, oder du kannst gleich wieder gehen.«
Karas Augen blitzten in diesem Moment einmal auf und Carla konnte sehen, wie eine Träne über die Wange dieser schönen Frau lief.
Diese Trauer schlug augenblicklich auf Carla über und in diesem Moment wusste sie, dass es ihr ernst mit ihrem Anliegen war und beschloss ihr zu folgen.
»Gut, Kara, ich komme mit dir.«
Kara ging auf Carla zu und umarmte sie, noch bevor sie zu schreien anfangen konnte. Als sie ihre Berührung fühlte, empfand sie plötzlich eine unglaubliche Leichtigkeit und ein seltsames Prickeln, das durch ihren Körper lief. Es war kein erotisches Gefühl, eher etwas energetisches, etwas, das einfach gut tat.
Ihre Gedanken wurden durch einen starken Luftzug unterbrochen. Kara drehte Carla so herum, dass ihr Blick auf die Nordwand ihres Zimmers fallen musste.
Normalerweise hing dort ein schönes Bild mit verziertem Rahmen, aber das war nicht mehr dort. Anstelle des Bildes war dort eine türgroße Öffnung in der Wand. Carla fiel auf, dass diese Öffnung keine Luft ausblies, sondern aufsog. Sie fühlte sich auch seltsam hingezogen zu diesem schwarzen Eingang.
»Vertrau mir«, sagte Kara und stieß sie auf die Öffnung zu, bis sie nicht mehr zurück konnte und sich plötzlich von einer totalen Schwärze umgeben sah…
Als Carla wieder sehen konnte, erblickte sie große Felsen und wahllos verstreute Grünflächen. Die Perspektive schien ihr die aus einigen Metern Höhe zu sein. Sofort blickte sie nach unten, um besser erkennen zu können, was sie eigentlich in der Luft hielt.
Leicht erschrocken musste Carla erkennen, dass Kara und sie auf einer runden, flachen Scheibe saßen. Diese Scheibe schwebte in etwa fünf Metern völlig unabhängig von der Gravitation über dem Boden.
»Was… was soll das alles? Kara, erkläre mir das, aber bitte schnell.« Carlas Worte klangen nicht aggressiv, sondern vielmehr verzweifelt.
Kara drehte ihren Kopf leicht zur Seite, um ihr in die Augen zu schauen:
»Du bist hier in Elon, meiner Heimat. Hier lebe ich, seit dem ich denken kann. Ich liebe dieses Land über alles!« Dann schaute Kara auf die fliegende Scheibe. »In diesem Land herrscht Frieden und vieles von dem, was du hier sehen kannst, haben wir mit unseren Gedanken selbst geschaffen. Die Schönheit dieses Landes aber existierte aber schon, als die ersten Eloner es bevölkerten. Davor kümmerten sich sieben Mächte um Elon. Sie haben es sozusagen vorbereitet. Als wir uns dann in dieses Land niederließen, haben wir uns sofort mit diesen sieben Mächten verbunden, um das Land noch schöner und kreativer zu gestalten. Wir brauchten diese Mächte nur zu bitten, dieses oder jenes für uns zu erschaffen, und dann haben sie es für uns getan. Nun ist es gegenwärtig so, dass niemand mehr in der Lage ist, diese sieben Mächte zu kontaktieren. Sie sind zwar noch da, aber niemand kann sie mehr anrufen.«
Carla hatte die ganze Zeit zugehört und dabei den Wohlklang ihrer Stimme genossen, sowie die unglaubliche, warme Ausstrahlung dieser friedlichen und schönen Umgebung.
Kara schaute Carla nun fragend an. Sie schien damit prüfen zu wollen, ob sie auch alles verstanden hatte.
Irgendwie fühlte Carla sich nun verpflichtet dazu Stellung zu nehmen:
»Du musst mich schon entschuldigen, aber ich muss das erst alles verarbeiten. Dein Auftauchen, dieses wunderschöne Land, deine Erklärungen. Solche Dinge passieren mir nicht so oft.«
Kara zog ihre Augenbrauen zusammen und schaute sie von oben bis unten an, bis beide plötzlich laut loslachten.
»Das ist alles viel schöner, als du es dir momentan noch vorstellen kannst«, sagte Kara und fuhr fort: »Das einzige Problem ist der abgebrochene Kontakt. In kurzer Zeit öffnet sich wieder das Kommunikationstor, worüber wir immer mit den sieben Möchten kommuniziert hatten. Nun ist aber niemand mehr von uns in der Lage, durch dieses Tor zu gehen. Eine unsichtbare Barriere hält uns zurück. Aus diesem Grund haben wir dich geholt. Unseren Informationen zufolge bist du die Einzige, die das Tor durchschreiten kann. Warum du die Einzige bist, kann ich dir leider nicht beantworten.«
So langsam verstand Carla. Ihr wurde klar, dass diese Frau es wirklich ernst meinte, auch wenn sie nicht besonders beunruhigt schien.
Plötzlich erhob sich die Flugscheibe senkrecht nach oben in einer unglaublichen Geschwindigkeit, so, dass Carla den Wind spürte, wie er ihr Haar zerzauste.
In ungefähr 300 Metern Höhe kam die Scheibe wieder abrupt zum Stehen. Von dort aus konnte Carla einen atemberaubenden Ausblick über das ganze Land genießen. Jetzt bewegte sich die Scheibe langsam vorwärts. Nun wurde sie schneller und schneller. Wolken zischten an ihnen vorbei und sie fühlte sich unglaublich frei.
Nach vielen Kilometern schönster und auch fremdartiger Naturerscheinungen konnte sie eine Grenze sehen. Nicht, dass dort die wunderschöne Welt aufgehört hätte, sondern von dieser grünen Grenze an, war alles verdorrt, so, als hätte ein großer Brand stattgefunden.
Carla erschrak: »Was ist dort passiert?«
»Seitdem der Kontakt nicht mehr aktiv ist, geht unsere Welt langsam zugrunde. Verstehst du jetzt, warum wir dich so nötig brauchen?
»Ich verstehe«, antwortete Carla, »ich werde durch dieses komische Tor gehen.«
In diesem Moment raste die Flugscheibe nach unten, dass es Carlas Atem anhielt, es war beinahe Fallgeschwindigkeit. Sie ging hinunter wieder bis auf fünf Meter Höhe und glitt weiterhin lautlos über das Land.
Carla spürte keinen Luftwiderstand, als sich die Scheibe weiterhin in einem großen Tempo fortbewegte. Auch hatte sie keine Angst herunterzufallen oder das Gleichgewicht zu verlieren. Sie wusste intuitiv, dass diese Flugscheibe völlig sicher war. Es schien ihr so, als säße sie auf einem Teppich, der sich überhaupt nicht bewegte, und die Umgebung war es, die sich bewegte und auf sie zuzukommen schien.
Nach einigen Minuten Flug blieb die Scheibe plötzlich stehen. Ein beträchtliches Stück verdorrtes Land hatten sie bereits hinter sich gelassen, aber anscheinend nur aus pädagogischen Gründen, denn nun waren sie wieder auf der grünen Seite.
Vor ihnen befand sich eine große Wiese mit Blumen, die Carla nicht kannte. Sie waren klein und erinnerten sie ein wenig an Stiefmütterchen. Sie waren hauptsächlich blau, lila und weiß. Links und rechts standen einige Büsche. Auf der rechten Seite der Büsche stand ein großer und sehr umfangreicher Baum mit tief hängendem Blattwerk und einigen verdorrten Ästen. Keine 20 Männer hätten diesen Baum umfassen können. Erst jetzt erkannte Carla eine seltsame Kugel aus Stein, die vor ihr auf dem Boden lag, mit nicht mehr als fünfzig Zentimeter Durchmesser. Fast unsichtbar lag sie dort auf der Wiese zwischen grünweißen Halmen.
»Jeden Moment wird die Kugel zu pulsieren anfangen. Alle zwei Minuten einmal, und wenn sie dann konstant leuchtet, wird das Tor geöffnet sein. Du musst dann nur noch durch das Tor gehen und alles Weitere wird dann in den Händen der sieben Mächte und an dir liegen. Ich hoffe, es akzeptiert deinen Eintritt.«
»Und wenn nicht…?«
»Dann kommst du einfach nicht hindurch. Nun gut, es soll heißen, dass schon jemand einmal sich in Luft aufgelöst hatte und nie wieder gesehen wurde, aber das können auch Märchen sein«, antwortete Kara trocken.
Dann lächelte sie verschmitzt und bat Carla, von der Flugscheibe zu kommen.
Kurz darauf rutschte sie auf ihrem Po bis zum Rand der Scheibe und glitt an ihr herunter. Nun fiel ihr erst einmal auf, dass die Gravitation hier nicht so stark wie in ihrer vertrauten Welt war. Sie konnte sich leichter bewegen, als hätte sie nur die Hälfte ihres Gewichts.
Mittlerweile stand Carla unmittelbar vor der kleinen Kugel, die aussah wie ein Stein, sich aber in einen Kristall zu verwandeln schien, wenn sie aufleuchtete.
Nach wenigen Minuten leuchtete die Kugel konstant, wurde immer intensiver in ihrer Leuchtkraft und plötzlich gab es einen hellen Blitz, und ein schwarzes Tor tat sich vor Carla auf. Wie schon einmal erlebt, baute dieses Tor eine unglaubliche Sogwirkung auf, riss sie vom Boden in eine waagerechte Position und wurde ins Tor gezogen.
Sie fand sich in einer absoluten Schwärze wieder. Sie konnte überhaupt nichts sehen. Ihre Orientierung stütze sich ganz allein darauf, dass sie spürte, dass sie wieder aufrecht stand. Sie konnte Boden unter den Füßen fühlen. Angestrengt blickte sie in alle Richtungen, in der Hoffnung irgendwas sehen zu können. Minuten vergingen, bis sie plötzlich ein Brausen vernahm. Es wurde lauter und lauter. Entweder war es unglaublich klein oder weit entfernt, sie konnte es nicht genau sagen, denn ein orangefarbener Lichtpunkt erschien in der Schwärze.
Der Lichtpunkt wurde größer und größer, bis sich plötzlich weitere Lichtpunkte sich diesem anschlossen. Sie waren verschieden farbig und deutlich konnte sie die Farben definieren. Es erschienen ein gelblicher, ein roter, ein grüner, ein blauer, ein lilaner und dann ein silberner.
Carla fand sich nun von sieben verschieden farbigen Lichtpunkten umgeben. Sie selbst hatte den Eindruck, als würden die Punkte sich freuen, sie zu sehen, so abstrakt ihr dies in diesem Moment auch erschien. Das Brausen nahm sie weiterhin im Hintergrund wahr und ein hohes Fiepen konnte sie nun ebenfalls vernehmen.
Plötzlich war sie in der Lage zu fühlen, dass diese Lichtpunkte bewusste Wesen waren, nur das diese Form ihre Gestalt war. Im Weiteren fühlte sie ihre Gedanken und konnte sie deutlich verstehen:
»Wir sind glücklich, dass du den Weg zu uns gefunden hast.«
Nun wurden sie zu dreidimensionalen Kugeln, die von einem zarten leuchtenden Film in ihrer jeweiligen Farbe umgeben waren.
»Wir haben dich gerufen, aber du hast uns nie gehört. So erschufen wir einen Plan. Wir brachen den Kontakt zu den Elonern ab und sandten ihnen ein Bild von dir in ihre Träume. Danach brauchten wir nur noch zu warten, bis sie dich in deiner eigenen Welt aufspürten und dich hierher brachten. Es war unbedingt notwendig, dass du zu uns kommst, denn wir konnten nicht zu dir durchdringen. Das war unser Plan und unsere Falle. Aber habe keine Angst, wir wollen dir nicht das Fürchten lehren.«
»Jedes Wesen, ob in deiner oder in einer anderen Welt, ist zu einer Aufgabe berufen. Es gibt kein Wesen, das nicht einmal die Chance erhielte, auf seinen optimalen Weg gelangen zu können. In der Regel wird jedem Wesen – so wie du es verstehst – in seiner gesamten Lebenszeit dreimal die Chance geboten, auf seinen Weg zu kommen. Deine Aufgabe ist es erst einmal Elon öfter aufzusuchen und die Bewohner besser kennen zu lernen. Lerne das Land und ihre Natur kennen, danach wirst du ein Zeichen von uns erhalten, wie du weiter vorzugehen hast, aber bedenke: du musst dich an diese Erfahrung erinnern. Erinnere dich!«
Carla verstand jedes Wort bis in ihr tiefstes Inneres. Sie war auf eine unerklärliche Weise überglücklich. Die Gefühle von Glück und Wohlbehagen waren so intensiv, dass sie gern für immer in der Nähe dieser Kugeln geblieben wäre. All ihre Fragen und ihre Unsicherheiten waren verschwunden und alles erklärte sich ganz von selbst.
Mehr sagten die Kugeln nicht zu ihr. Zum Abschied jagte eine jede Kugel durch sie hindurch und erfüllten Carla mit unglaublichen Energien und unfassbarem Glück. Alle Probleme und Sorgen verschwanden für immer und sie genoss eine wundervolle Befreiung ihrer selbst.
Nach diesem Abschied blitzte es einmal vor ihren Augen auf und sie stand wieder auf der Wiese neben Kara.
»Wo warst du so lange?« fragte Kara aufgeregt.
Dann erzählte Carla, was ihr in der schwarzen Welt passiert war. Von den sieben Mächten, die sich ihr als leuchtende Kugeln zeigten, den Plan, ihre Aufgabe und ihre Gefühle, die sie empfand und immer noch fühlte.
Kara entgegnete, dass sie eine lange Zeit in dieser anderen Welt gewesen wäre.
»Nein, Kara, das kann nicht sein. Es waren höchstens zwei Stunden, die ich darin verbracht habe.«
»Für dich vielleicht«, entgegnete Kara, »aber hier ist eine Woche vergangen. Ich bin jeden Tag hergekommen, um auf dich zu warten. Aber das ist nun unwichtig. Erzähle mir nun, ob der Kontakt zu den sieben Mächten wieder hergestellt ist?«
Carla lächelte und gab eigentlich schon lange zu verstehen, dass alles gut verlaufen war.
»Die sieben Mächte sagten mir, dass sie willentlich den Kontakt abgebrochen hatten, damit du in meine Welt kommst und mich zu ihnen bringen würdest. Indem du mich hierhin gebracht hast und als ich ihre Welt betrat, war der Kontakt automatisch wieder hergestellt. Ihr könnt sie nun jederzeit wieder kontaktieren. Sie haben es mir zwar nicht gesagt, aber ich fühle, dass es so ist.«
Kara schaute Carla lange an, ging dann auf sie an und umarmte sie.
»Ich bin glücklich und muss diese Botschaft sogleich in Elon verkünden. Es ist aber auch Zeit, dich wieder in deine Welt zurückzubringen.«
Sie nahm Carla an die Hand und einige Zeit später standen sie wieder in ihrem Wohnzimmer. Hinter ihnen schloss sich eine weiße Tür.
Jetzt standen sie sich wieder so gegenüber, wie am Anfang ihrer Begegnung.
»Carla, ich bedanke mich im Namen aller Eloner bei dir. Wir werden uns gewiss wieder sehen.« Karas Augen füllten sich mit Tränen.
»Keine Ursache. So was mache ich doch jeden Tag«, sagte Carla und beide lachten.
Sie wusste, dass sie eigentlich jene war, die sich zu bedanken hatte, denn mit Karas Hilfe hatte sie eine andere Welt entdeckt, die wunderschön war und sie niemals vergessen würde, so lange sie lebte. In ihrem gemeinsamen Glück lag auch eine gewisse Traurigkeit, denn ein Wiedersehen war unumgänglich mit Carlas Erinnerungsfähigkeit verbunden.
»Erinnere dich, Carla, unbedingt!« rief Kara zum Abschied.
Nun konnte Carla mit ihren Gefühlen einen umher jagenden Blitz orten, der sich um ihren Körper drehte. Dann entstand in der Nordwand des Zimmers ein schwarzes Tor und Kara verschwand. Das Tor schloss sich unmittelbar danach und mit einem Mal war es totenstill um sie herum.
Die Hektik, die Gefühle und der Abschied, alles war mit einem Mal verschwunden und nur eine unbeschreibliche Stille blieb zurück.
Carla war wieder allein. In ihrem Zimmer war es nun taghell. Die Sonne musste schon längst aufgegangen sein, und der Himmel war wolkenfrei.
Carla fand sich am nächsten Morgen in ihrem Bett wieder. Sie erhob sich, um sich langsam für die Arbeit fertig zu machen, als plötzlich das Telefon klingelte. Mit einem Sprung hatte sie den Hörer in der Hand.
»Ja?«
»Hallo Carla. Hier ist Andrea.«
»Wie geht’s? Ist irgendwas?« fragte Carla nach.
»Ich bin total fertig. Kannst du nachher bei mir vorbeikommen. Mein Freund hat Schluss gemacht und ich bin so frustriert. Bitte, ja?« Andreas Stimme schwankte leicht.
»Na klar. Ich komme nach der Arbeit sofort bei dir vorbei.«
»Danke, du bist ein Schatz. Und? Was war bei dir so los?« fragte Andrea fast gleichgültig, als seien ihre Probleme viel wichtiger.
In diesem Moment, als Andrea diese Frage stellte, gingen einige flüchtige Bilder durch ihren Kopf.
»Ich glaube, ich bin heute Nacht geflogen. War schön.«
Sie dachte noch kurz darüber nach. Sie fühlte sich heute sehr glücklich und ausgeglichen, aber da war noch etwas, woran sie sich aber leider nicht mehr erinnern konnte…
(© Jonathan Dilas)