Verlorene Sequenzen – Verlorene Welt
Eine Kurzgeschichte von Jonathan Dilas
Es war in einer Zeit, in der dieser Planet noch voller Lebewesen war, aber seit ich dieses Experiment durchgeführt habe, bin ich ganz allein auf dieser Welt.
Wenn ich mich frage, was denn nun wirklich geschehen ist, so kann ich nur antworten, dass es um die Erschaffung eines künstlichen, elektromagnetischen Feldes ging, welches das der Erde um ein Tausendfaches verstärken sollte. Natürlich war es ein sinnloses Experiment, wie viele andere davor, aber ich bin ein Forscher, und ein Forscher forscht, auch wenn er etwas entdeckt, was letzten Endes niemand gebrauchen kann oder gar haben möchte.
Im Moment bin ich nur in der Lage, zu äußern, dass dieses Experiment die ganze Stabilität des Universums erschüttert hat. Ungefähr 45 Sekunden nach Beginn dieses Experiments, fing die ganze Erde an zu beben und das Universum verschob sich. Seit diesem Zeitpunkt ist es höchst instabil und diese universelle Verschiebung wiederholt sich in einem sporadischen Rhythmus ständig.
Ich selbst nehme es immer als eine Verschiebung meiner ganzen Wahrnehmung wahr und dann befinde ich mich plötzlich an einem anderem Ort oder auf einem ganz anderem Planeten. Meinen Spekulationen zufolge könnte es sogar sein, dass ich mich manchmal sogar in einem ganz anderem Universum befinde.
Im Weiterem bin ich mir auch überhaupt nicht sicher, ob ich nun das ganze Leben auf der Erde ausgelöscht habe oder ob ich mich nur durch eine Unmenge von so genannten Parallelwelten bewege. Seltsamerweise bin ich stets völlig allein. Keine Lebewesen. Weder Menschen noch Tiere, selbst Ungeziefer ist nirgends zu entdecken.
In der letzten Woche z.B. hat sich das Universum bestimmt 17 mal verschoben – falls es immer das gleiche gewesen ist – und es scheint mir so, als wenn das Universum nicht mehr die notwendige Energiemenge aufbringen könne, um seine Stabilität aufrechtzuerhalten. Man könnte sagen, dass es ständig abkippt und sich dann sofort wieder neu aufbaut.
Völlig rätselhaft ist mir noch der Gedanke, dass, wenn eine Verschiebung eintritt und das Universum abkippt, das vielleicht nur einen Sekundenbruchteil andauert und sich dann sofort wieder aufbaut, ich nicht weiß, was in der Zwischenzeit passiert ist.
Man mag vielleicht einwenden, dass es sich doch nur um einen winzigen Moment handelt, aber ich glaube, dass das völlig relativ ist, denn in diesem kurzen Moment können Stunden, Tage oder Wochen vergangen sein. Mir persönlich erscheint es wie ein kleiner Blackout, begleitet durch einen kurzen Lichtblitz.
Meine ganze Ausbildung als Naturwissenschaftler in Physik, Chemie, Mathematik und Informatik reicht bei weitem nicht aus, um ein derartiges Phänomen erklären zu können. Eigentlich konnte ich bis zum heutigen Tag alles vergessen, was ich je auf den Universitäten gelernt hatte. Als viel sinnvoller stellte sich heraus, meiner Wahrnehmung, meiner Beobachtungsgabe, Intuition und spontanen Eingebung zu trauen.
Das Zeitempfinden z.B. ist immer noch das gleiche, aber wie kann ich sagen, wie viel Zeit, nach einer dieser Verschiebungen, wirklich vergangen ist?
Mein Körper scheint sich dieser neuen Situation optimal angepasst zu haben. Hinzu kommt, dass er überhaupt nicht mehr zu altern scheint, er regeneriert sich immer wieder neu, nach jeder Verschiebung. Irgendwie ergibt sich daraus die logische Schlussfolgerung, dass ich auf ewig dazu verdammt sein werde, mich durch eine unglaubliche Anzahl, einer unendlichen Anzahl von Parallelwelten zu bewegen, ohne, dass dies jemals ein Ende haben könnte. Es ist auch keine Frage dessen, ob ich mich mit dieser neuen Art der Forschung auseinandersetzen will, sondern ich muss es! Immerhin widerfährt es mir ja ständig.
Manchmal wünsche ich mir so sehr, einem anderen Menschen zu begegnen, damit ich mich nicht mehr so allein fühlen muss.
Unter vielen anderen Theorien habe ich auch die Theorie, dass diese universellen Verschiebungen eine Schleife besitzen, und dass eine unter den vielen mich wieder in meine ursprüngliche Welt bringen könnte. Zwar wird das nur für kurze Zeit sein, aber vielleicht lang genug, um meinen Notizblock herauszuholen und eine Nachricht dort hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie irgendwann von irgendwem entdeckt wird. Ich weiß nicht, was ich mir davon verspreche, aber es ist gewiss besser als nichts in dieser Richtung zu tun …
Oh, gerade hat es wieder eine Verschiebung gegeben.
Ich sitze jetzt nicht mehr an diesem schwarzen Baum mit den olivfarbenen Blättern, sondern an einem Meer. Dieses Meer gleicht unserem Meer, aber hatten wir denn zwei Sonnen am Himmel? Wenn das so weitergeht, dann werde ich noch alles über die Erde vergessen.
Diese vielen Welten, die ich gesehen habe und noch sehen werde. Diese unendlichen Panoramen …
Wohin werde ich gehen? Wohin führt das alles?
Aber ich glaube, dass ich nichts bereue. Wozu auch? Ich könnte nichts mehr daran ändern. Vergangenheit und Zukunft sind so unwichtig geworden. Was soll ich mit einer Vergangenheit in einer Welt, in der ich nur für Stunden war, und was soll ich mit einer Zukunft, die so unberechenbar wie die meinige ist? Mir bleibt nur noch das Schauen und das Erleben dieser unendlichen Unendlichkeiten…
Was ist in diesen Blackouts? Ist in diesen Blackouts vielleicht meine ursprüngliche Welt … die Welt, wo ich hergekommen bin? Sind es verlorene Sequenzen meiner selbst?
Manchmal bekomme ich eine ganz flüchtige Wahrnehmung von etwas, das sich in diesen Blackouts befindet. Es scheinen extrem geringe Erinnerungen an etwas zu sein, dass ich nicht bestimmen kann. Nur für einen kurzen Moment, genau Tausendstel Sekunde vor dem Lichtblitz, habe ich manchmal den Eindruck, etwas Vertrautes wahrgenommen zu haben. Doch im nächsten Augenblick ist alles verschwunden und ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern.
Es müsste mir gelingen, diesen extrem kurzen Zeitraum so zu dehnen, damit ich einen größeren Einblick in das bekommen kann, was während des Blackouts geschieht. Vielleicht wäre ich dann wieder in meiner Heimatwelt … zu Hause.
Eigentlich sind es keine Blackouts. Wenn ich in der Lage bin, mich an etwas zu erinnern, das ich innerhalb eines Blackouts wahrgenommen habe, dann sind es keine. Ich muss einen anderen Begriff dafür finden.
Ich habe nun in einem dieser so genannten Blackouts etwas wahrgenommen. Es war etwas mir ganz Vertrautes. Ich schien irgendwo zu sitzen und ich glaube … ich glaube, dass ich mich mit jemanden unterhalten habe. Es war faszinierend und unheimlich zugleich. Die andere Person trug einen Kittel …
Vielleicht befinde ich mich nach der nächsten Verschiebung wieder in meiner Welt. Wenn dem so sein sollte, dann hinterlasse ich dort die vorbereitete Botschaft an einem trockenen und sicheren Platz. Vielleicht findet diese Botschaft jemand. Wer mag das dann wohl sein? Ein Mann oder eine Frau? Was wird er oder sie tun? Diese zum nächsten Physiker bringen? Immerhin sind viele meiner Berichte dabei.
Wenn ich Pech habe, wird diese Botschaft dort vergilben oder Kinder werden sie finden. Ich kann nur noch hoffen.
Was würde ich tun, wenn ich so eine Botschaft finden würde? Vielleicht einen Science-Fiction-Roman daraus machen oder etwa eine Kurzgeschichte, die dann auf irgendeiner Webseite herumliegt, um zumindest zu überprüfen, wie derartige Informationen aufgenommen und interpretiert werden, bzw. ob irgendwer dem überhaupt Glauben schenkt.
Auf jeden Fall werde ich es niemals erfahren, was er oder sie damit anstellen wird. Es ist auch gar nicht so wichtig. Vielleicht werde ich nie wieder an diesem Punkt zurückkehren, an dem ich diese Nachricht hinterlegt habe. Mein Leben ist nun völlig umstrukturiert, da meine Erfahrungen nun ganz anders sind als damals … davor …
Wie könnte man ein derartiges Lebewesen wie mich nennen, das so lebt wie ich? Ein humanoides Wesen, das zwischen Wahrnehmungen und Blackouts, die keine sind, hin- und herspringt? Wie nennt man Blackouts, die keine sind?
Ich glaube, dass ich mich uminterpretiere. Ich werde warten. Ich habe mich entschlossen, zu warten. Einfach zu warten in dieser unglaublichen Unendlichkeit mit all seinen verrückten Sequenzen.
So allein, so unermesslich allein werde ich warten…